"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Boris Poloshij und Irina Saposhnikowa<br />
offene Bruch mit früheren Gewohnheiten und Regeln, der Verlust<br />
von Idealen, die Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich<br />
und die damit einhergehenden Ideologien sind ihrerseits zu schweren<br />
sozialen Stressoren mit negativen Auswirkungen auf die seelische<br />
Gesundheit der Bevölkerung geworden. Ein weiterer ungünstiger<br />
Faktor in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs war die<br />
mangelhafte Vorbereitung und die geringe Neigung der Bevölkerung,<br />
sich auf radikale Lebensveränderungen einzulassen. Den Menschen<br />
fehlten einfach jene so genannten westlichen Charaktermerkmale<br />
wie Autonomie, Unabhängigkeit, Selbstvertrauen, der Glaube an die<br />
eigenen Fähigkeiten sowie Initiativefreudigkeit, die in dem neuen<br />
sozialen Kontext so dringend benötigt wurden. Auf diese Weise<br />
wurde die so schnell gewonnene Freiheit vielfach eine große Last<br />
für viele Menschen im Lande.<br />
Ein Rundschreiben des Gesundheitsministeriums aus dem <strong>Jahre</strong><br />
1987 kann als der Beginn der <strong>Psychiatrie</strong>-Reform angesehen werden.<br />
Das Jahr zuvor, 1986, war für die russische <strong>Psychiatrie</strong> eines<br />
der schwierigsten überhaupt. Musste die »Russische Gesellschaft für<br />
<strong>Psychiatrie</strong> und Nervenheilkunde« doch öffentlich einräumen (um<br />
wieder in die World Psychiatric Association, WPA, aufgenommen<br />
werden zu können, die sie 1982 gezwungenermaßen verlassen hatte),<br />
dass ihre Mitglieder sich zu politischen Zwecken systematisch<br />
hatten missbrauchen lassen. Es ist klar, dass diese Zeit für alle russischen<br />
Psychiaterinnen und Psychiater schwierig war. Jeden Tag<br />
sahen sie sich gerechtfertigten und ungerechtfertigten Anklagen und<br />
Beschimpfungen ihrer Patientinnen und Patienten sowie von deren<br />
Angehörigen gegenüber, auch von Journalistinnen und Journalisten<br />
sowie der Öffentlichkeit ganz allgemein. Nicht alle Psychiaterinnen<br />
und Psychiater konnten mit diesen, die Glaubwürdigkeit der gesamten<br />
Profession in Frage stellenden Angriffen umgehen, und eine<br />
zumindest »metaphysische Schuld« (i.S. Karl Jaspers) einräumen,<br />
auch wenn sie persönlich sich nichts vorzuwerfen hatten. Verständlicherweise<br />
führte dies zu zusätzlichen Problemen.<br />
Die Bevölkerung, die seelische Gesundheit und sozialer Stress<br />
Die schwierige finanzielle, ökonomische und soziale Situation des<br />
Landes blieb nicht ohne Auswirkungen auf die seelische Gesundheit<br />
der Bevölkerung. Zum einen haben die materiellen Probleme<br />
Die <strong>Psychiatrie</strong>-Reform in Russland<br />
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die Personen mit einer psychiatrischen Erkrankung schwerer getroffen<br />
als andere Bürger. Zum anderen aber hat die ökonomische Krise<br />
des Landes zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitssystems<br />
im Allgemeinen und der psychiatrischen Versorgung im<br />
Besonderen geführt. Als eine Konsequenz all dieser Faktoren ist<br />
festzustellen, dass sich die Indikatoren, mithilfe derer seelische Gesundheit<br />
messbar wird, nach 10 <strong>Jahre</strong>n Reform nicht verbessert,<br />
sondern verschlechtert haben (3, 4). Die auf psychiatrische Störungen<br />
beziehbare Invalidität ist um 36 % angestiegen und die Häufigkeit<br />
von Gewalttaten psychisch <strong>Kranke</strong>r hat sich in dieser Dekade<br />
verdoppelt (vor allem schwere Körperverletzungen und auch Tötungsdelikte).<br />
Die Suizidraten haben sich seit 1991 ebenfalls verdoppelt<br />
und lagen 1999 bei 44,8 pro 100.000 der Bevölkerung. In<br />
einigen Landesteilen erreichen die auf 100.000 Einwohnerinnen und<br />
Einwohnern bezogenen Selbstmordraten sogar 60–70 (5, 6).<br />
Offizielle russische Morbiditätsstatistiken belegen einen generellen<br />
Anstieg der so genannten neurotischen Störungen um 35 %,<br />
von schweren Persönlichkeitsstörungen um <strong>25</strong> %, eine Zunahme von<br />
Drogenmissbrauch um den Faktor 6,6 und alkoholassoziierter Psychosen<br />
um den Faktor 4 (7). Diese Daten unterschätzen wahrscheinlich<br />
noch die Morbidität der Bevölkerung, da die Inanspruchnahme<br />
der psychiatrischen Dienste seit 1980 zurückgegangen ist. Der<br />
Anstieg der psychiatrischen Morbidität steht wahrscheinlich in einem<br />
Zusammenhang mit dem Zuwachs stressabhängiger psychischer<br />
Störungen.<br />
Das derzeitige psychiatrische Versorgungssystem<br />
Die russische Föderation verfügt über eine Population von 148,5<br />
Millionen Menschen (109,8 Millionen städtisch, 38,7 Millionen<br />
ländlich). Das Land ist unterteilt in 89 Republiken bzw. Territorien.<br />
Jedes der 89 Territorien hat eine eigenständige psychiatrische<br />
Versorgung mit stationären und ambulanten Diensten (8). Die regionale<br />
psychiatrische Versorgung wird von dem dafür zuständigen<br />
regionalen Dispensaire (Ambulatorium) koordiniert. Leitlinien dieses<br />
Versorgungssystems sind: (I) Koordination der Hilfen (<strong>II</strong>) Kontinuität<br />
der Hilfen, einschließlich der Verzahnung von stationären<br />
und ambulanten Diensten und Einrichtungen. Die Hilfen selbst<br />
orientieren sich an dem Sektorprinzip, wobei der gesamte Einzugs-