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"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.

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Stefan Bräunling<br />

laufhaus gestalten die Bewohnerinnen und Bewohner den Alltag in<br />

der Hausgemeinschaft selbstverantwortlich. Für Einkauf, Essen<br />

machen, Sauberkeit der Räume etc. ist die Gruppe der Bewohnerinnen<br />

und Bewohner zuständig. Unterstützt werden sie durch die<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des 14-köpfigen Teams. Diese<br />

Personalstärke – den größten <strong>Teil</strong> des Tages sowie in der Nacht sind<br />

zwei Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter anwesend (plus Praktikantinnen)<br />

– ist außerordentlich hoch und bietet die Möglichkeit der<br />

sehr intensiven Krisenintervention, -begleitung und -nachsorge. Die<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen die Bewohnerinnen<br />

und Bewohner in praktischer und emotionaler Hinsicht, beim Bewältigen<br />

von Alltagsanforderungen, bei Behördenangelegenheiten<br />

aller Art sowie Wohnungssuche, beim Mitgestalten des Alltags in der<br />

Hausgemeinschaft bis zum Dabeisein in Krisensituationen.<br />

Bezahlt wird der Aufenthalt von dem jeweils zuständigen Berliner<br />

Sozialamt in Form eines Tagessatzes von etwa 220 Mark nach<br />

§ 72 (Hilfe in besonderen sozialen Schwierigkeiten) des Bundessozialhilfegesetzes.<br />

Das Weglaufhaus ist also sehr viel billiger als eine<br />

psychiatrische Station, allerdings durchaus eine vergleichsweise teure<br />

Einrichtung der Wohnungslosenhilfe.<br />

Die Bewohnerinnen und Bewohner befinden sich im Moment<br />

der Aufnahme meistens in einer Situation, in denen ihnen ein <strong>Psychiatrie</strong>aufenthalt<br />

unmittelbar droht. Manche kommen direkt aus<br />

der <strong>Psychiatrie</strong>, teilweise regulär entlassen, teilweise gegen das Anraten<br />

der Ärztinnen und Ärzte, und zum <strong>Teil</strong> aus der Zwangsunterbringung<br />

geflohen. Die Mehrzahl kommt aus betreuten<br />

Wohnprojekten, in denen der Rahmen nicht vorhanden ist, eine<br />

zugespitzte Krise begleiten zu können, und in denen oft die Psychopharmakaeinnahme<br />

Pflicht ist und jede krisenhafte Veränderung<br />

zur Überweisung in die <strong>Psychiatrie</strong> führen kann. Es kommt nicht<br />

vor, dass sich jemand ausschließlich mit dem Problem, in eine verrückte<br />

Phase gerutscht zu sein, an das Weglaufhaus wendet. Alle<br />

Bewohnerinnen und Bewohner sind wohnungslos oder konkret von<br />

Wohnungslosigkeit bedroht. Einen festen Arbeitsplatz hat fast keine/r,<br />

die/der hier wohnt, kaum eine/r hat eine Berufsausbildung, die<br />

allermeisten keinen oder einen ungünstigen Schulabschluss, manche<br />

sind EU-berentet. Die meisten leben von Sozialhilfe, viele haben<br />

große finanzielle Schwierigkeiten. Viele Bewohnerinnen und<br />

Bewohner unterstehen einem Betreuungsverhältnis, mit dem sie<br />

Das Berliner Weglaufhaus – ein Angebot zur Ent-Psychiatrisierung<br />

104 105<br />

nicht zufrieden sind. Ein tragfähiges soziales Umfeld hat keine/r<br />

unserer Bewohnerinnen und Bewohner, manche leben schon seit<br />

längerem in annähernder sozialer Isolation. Zum Erlernen praktischer<br />

Alltagskompetenzen, wie z.B. Kochen, hatten manche unserer<br />

Bewohnerinnen und Bewohner noch nie die Gelegenheit. Die<br />

Menschen leiden unter zumeist unangenehmen Verrücktheitserfahrungen,<br />

unter schwerwiegenden unangenehmen Erlebnissen<br />

während ihrer <strong>Psychiatrie</strong>aufenthalte, viele unter Gewalterfahrungen<br />

in Kindheit und Jugend und nun unter den Wirkungen der ihnen<br />

verabreichten Psychopharmaka. Das Leben im Weglaufhaus ist so<br />

organisiert, dass hier erwachsene, zur Selbstständigkeit fähige Menschen<br />

freiwillig zusammenleben. Sie müssen ihren Alltag selber organisieren,<br />

sie haben jederzeit die volle Kontrolle darüber, was die<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihnen und für sie machen. Die<br />

Hilfeleistungen sind minimal vorstrukturiert, es gibt keine vorgegebene<br />

Zeitstruktur, keinen Plan, nach dem die Hilfe abzulaufen hat,<br />

kein Therapieangebot im Haus. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

sind zwar oft sehr fürsorglich, wir erkennen ja auch deutlich,<br />

dass die Bewohnerinnen und Bewohner intensiver Unterstützung<br />

bedürfen, aber das geht (fast) nie in die Richtung, dass den Menschen<br />

die Verantwortung für ihr Tun abgenommen wird. Förderung<br />

der Selbstständigkeit ist immer das Oberziel des Weglaufhaus-Aufenthaltes,<br />

das Weiterziehen in eine weniger intensiv betreute Umgebung<br />

vom Weglaufhaus aus ist meistens eines der konkreten Ziele.<br />

Es ist natürlich nicht verboten, im Weglaufhaus Psychopharmaka<br />

einzunehmen, es wird allerdings erwartet, dass die Menschen die<br />

Bereitschaft mitbringen oder entwickeln, sich mit den Wirkungen<br />

der von ihnen eingenommenen Mittel auseinander zu setzen. Wer<br />

dabei zu dem Schluss käme, eigene Schwierigkeiten in erster Linie<br />

durch die Einnahme von Psychopharmaka bewältigen zu wollen,<br />

würde von uns in eine der vielen Wohneinrichtungen weitervermittelt<br />

werden, die dieser Bedürfnislage eher entsprechen. Dies kommt<br />

in der Praxis allerdings kaum vor, die Menschen kommen ganz<br />

überwiegend mit dem Wunsch ins Weglaufhaus, sich ein selbstverantwortetes<br />

Leben jenseits des herkömmlichen Krankheitsverständnisses<br />

und ohne psychiatrische Medikamente aufzubauen. Etwa<br />

60 % der Bewohnerinnen und Bewohner nehmen schon zum Zeitpunkt<br />

des Einzuges keine Mittel mehr. Den Übrigen, die reduzieren<br />

oder absetzen wollen, raten wir häufig, dies schrittweise im Rah-

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