"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Toma Tomov <strong>Psychiatrie</strong>-Reform in Osteuropa<br />
wieder. Einige Beispiele diesbezüglich sollten genannt werden, da<br />
nun in der Retrospektive einiges deutlicher wird.<br />
Beispielsweise wurde von den Dispensaires (Polikliniken) in der<br />
Sowjetunion, in Bulgarien und anderen osteuropäischen Ländern<br />
eine Art Registrierung und Beobachtung psychisch kranker Menschen<br />
durchgeführt. Oberflächlich betrachtet mag dies den Anschein<br />
der Fürsorge haben, tatsächlich fehlte es jedoch den unterqualifizierten<br />
und überarbeiteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an<br />
Mitleid und Respekt gegenüber den psychisch <strong>Kranke</strong>n, ferner hatten<br />
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser <strong>Kranke</strong>nreviere die<br />
Möglichkeit, in die Privatsphäre ihrer Patientinnen und Patienten<br />
einzugreifen, was befremdlich und stigmatisierend zugleich war.<br />
Diese Methoden wurden niemals zum Gegenstand einer offenen<br />
Diskussion in psychiatrischen Fachkreisen gemacht, sie leiteten sich<br />
aus der Ideologie der totalitären Staatsform ab und erfüllten lediglich<br />
den Zweck der Kontrolle. Forschungsprojekte, welche als Voraussetzung<br />
langfristige Beziehungen zwischen psychisch kranken<br />
Menschen und Therapeutinnen als auch Therapeuten haben, wurden<br />
niemals durchgeführt, da aus staatlicher Sicht der gesellschaftliche<br />
Beitrag psychisch <strong>Kranke</strong>r in Frage gestellt wurde. Die Bedeutung<br />
von Fördervereinen, durch die Randgruppen wieder in die<br />
Gesellschaft integriert werden können, wurde niemals bedacht. Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter des psychiatrischen Gesundheitswesens<br />
wurden nicht speziell geschult, sie verfügten somit nicht über<br />
beispielsweise gesprächspsychotherapeutische Fähigkeiten. Die<br />
Mängelliste ist lang, gleichzeitig zeigt sie, dass die Drahtzieher des<br />
politischen Systems stets im Sinn hatten, ihre Bürgerinnen und<br />
Bürger zu kontrollieren, sich aber kaum um das Wohlergehen der<br />
Bevölkerung gekümmert haben.<br />
Ein weiteres Beispiel der zurückgelassenen Erblast des alten<br />
politischen Systems ist das aktuell bestehende Verbot, eine spezielle<br />
psychiatrische Gesundheitspolitik zu erarbeiten, welche die Realität<br />
abbildet und den Bedürfnissen der <strong>Kranke</strong>n entspricht. Ganz im<br />
Gegenteil wird derzeit die <strong>Psychiatrie</strong> wie zu kommunistischen Zeiten<br />
gesondert von anderen Gesundheitsfragen betrachtet. Das bestehende<br />
System ordnet sämtliche psychische Erkrankungen einem<br />
speziellen Netzwerk aus <strong>Kranke</strong>nanstalten und Ambulanzen zu. Dies<br />
führte zu einer Aufsplitterung der ärztlichen Berufsgruppen, gleichzeitig<br />
wurde die Stigmatisierung psychischer Krankheiten verstärkt,<br />
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ferner kam es hierdurch zu einer Verunsicherung der psychisch <strong>Kranke</strong>n,<br />
welche kaum in der Lage waren, gemeinsam ihre Interessen zu<br />
vertreten. Ein solches Gesundheitswesen lässt keine individuelle<br />
Behandlung psychischer Erkrankungen zu. Das Fach <strong>Psychiatrie</strong> war<br />
somit Ziel von Beschwerden und Unzufriedenheiten geworden,<br />
gleichzeitig wurden jedoch Lösungsansätze, welche die Bedürfnisse<br />
der Patientinnen und Patienten im Auge hatten, außer Acht gelassen.<br />
Das psychiatrische Gesundheitswesen in Osteuropa sorgte<br />
sich hauptsächlich um die Ansprüche des Personals, jedoch nicht<br />
um die Lebensqualität der einzelnen Patientinnen und Patienten.<br />
Dies führte auch dazu, dass die Qualität der wenigen psychiatrischen<br />
Dienste abnahm und diese seltener die Ziele der psychisch <strong>Kranke</strong>n<br />
verfolgten. Es herrschte eine Kultur, in der Entscheidungen nach<br />
dem gesunden Menschenverstand getroffen wurden, diese Entscheidungen<br />
wurden jedoch nicht durch Studien belegt (5), wie dies für<br />
gewöhnlich in der Wissenschaft der Fall ist. Die klinische Praxis unterliegt<br />
dann nicht länger dem übergeordneten Ziel der Behandlung<br />
und Versorgung psychisch kranker Menschen. Ein solches Gesundheitswesen<br />
fällt im Grunde genommen schutzlos einer narzisstischen<br />
Führung zum Opfer, gleichzeitig kommt es dann häufig zu einer<br />
Überfülle von Regeln und Verboten, welche den Kern totaler Kontrolle<br />
und totaler Abhängigkeit ausmachen. In solchen abgeschlossenen<br />
und engstirnigen Umgebungen kann sich dann ein politischer<br />
Missbrauch der <strong>Psychiatrie</strong> breit machen (6, 7). In einem weiteren<br />
Schritt werden dann Glaubensgrundsätze und Vorurteile als Naturgegebenheiten<br />
dargestellt (8) und zwar auf einer viel breiteren Ebene<br />
als dies für gewöhnlich auf wissenschaftlicher Ebene möglich ist.<br />
Als gutes Beispiel hierfür können die diagnostischen Einschätzungen<br />
von Herrn Professor Snezhnevsky (schleichende Schizophrenie)<br />
(9) dienen.<br />
Ein weiteres Element der schweren Erblast, welche auf der <strong>Psychiatrie</strong><br />
der osteuropäischen Länder lastet, betrifft die Finanzierung<br />
des Gesundheitssystems. Die psychiatrischen Dienste waren als <strong>Teil</strong><br />
des Gesundheitssystems für die Patientinnen und Patienten kostenfrei.<br />
Im Rahmen der zentralen Planwirtschaft erhielten diese Dienste<br />
ein jährliches Budget, welches die Aufrechterhaltung derselben auf<br />
dem Level des Vorjahres ermöglichte. Dieser enge Finanzrahmen ließ<br />
keinerlei Weiterentwicklung zu, die psychiatrischen Dienste waren<br />
lediglich in der Lage den bestehenden Status zu erhalten, Reformen