"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Manfred Bauer und Thomas Becker<br />
mit dem Akzent auf der Behandlung chronisch <strong>Kranke</strong>r korrespondiert<br />
ein z.T. erheblicher Bettenabbau, der sich in Deutschland wie<br />
folgt darstellt: Während die sog. Bettenmessziffer zu Zeiten der<br />
<strong>Psychiatrie</strong>-Enquete (1971) noch 1,6 pro 1.000 Einwohnerinnen<br />
und Einwohner betrug, ist sie in der Zwischenzeit auf etwa 0,7 Promille<br />
gesunken, allerdings mit einer beträchtlichen regionalen<br />
Spannbreite zwischen ca. 0,5 Promille und 1,0 Promille, abhängig<br />
nicht zuletzt vom Ausbaugrad alternativer Gemeindestrukturen.<br />
Verglichen mit den europäischen Nachbarstaaten ist dies noch immer<br />
relativ hoch, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass in<br />
Deutschland sucht- und gerontopsychiatrische Patientinnen und<br />
Patienten traditionell zum psychiatrischen Versorgungssystem gehören,<br />
während sie z.B. in Italien außerhalb desselben betreut werden.<br />
Die Konzentration auf die Behandlung chronisch psychisch<br />
<strong>Kranke</strong>r in der Gemeinde sowie damit einhergehend die Auflösung<br />
der Langzeitbereiche in den Kliniken, ist ein zentraler Aspekt nicht<br />
nur der deutschen <strong>Psychiatrie</strong>-Reform, sondern findet sich in allen<br />
europäischen Ländern wieder. Damit am weitesten gekommen<br />
scheinen England und Italien, vielleicht auch noch Schweden, während<br />
die osteuropäischen Staaten das Schlusslicht bilden. Deutschland<br />
nimmt hier eine mittlere Position ein. Mit den dabei bekanntermaßen<br />
auftretenden Schwierigkeiten der Kooperation und<br />
Koordination haben jedoch alle europäischen Staaten zu tun, relativ<br />
unabhängig davon, ob sie eher zentralistisch oder föderalistisch<br />
organisiert sind. Dabei ist unverkennbar, dass es auch innerhalb der<br />
einzelnen Länder zu sehr unterschiedlichen regionalen Lösungen<br />
gekommen ist, sodass die Frage nahe liegt, ob in Zukunft nationale<br />
Vergleiche der einzige Maßstab sind, wenn es darum geht, den jeweils<br />
erreichten Stand der <strong>Psychiatrie</strong>-Reform zu dokumentieren<br />
oder aber, ob nicht grenzüberschreitende regionale oder lokale Besonderheiten<br />
und Trends im Vordergrund stehen. Einige Daten aus<br />
europäischen Studien und Gespräche mit Experten aus verschiedenen<br />
Ländern sprechen dafür.<br />
Ein Problem, mit dem sich nicht nur die deutsche <strong>Psychiatrie</strong>,<br />
sondern alle europäischen Länder konfrontiert sehen, zentriert sich<br />
um die Frage »Arbeit für psychisch <strong>Kranke</strong>« respektive deren Arbeitslosigkeit.<br />
Dabei ist klar, dass bezahlte Arbeit nicht nur ein »tagesstrukturierendes<br />
Moment« bei der Behandlung und Rehabilitation<br />
psychisch kranker Menschen darstellt, sondern mehr als alles an-<br />
Die <strong>Psychiatrie</strong>-Enquete im europäischen Vergleich<br />
238 239<br />
dere dazu beiträgt, gerade chronisch <strong>Kranke</strong> gesundheitlich zu stabilisieren.<br />
Trotz der in allen Beiträgen betonten Bedeutung angemessen<br />
entlohnter Arbeit und trotz der national durchaus unterschiedlichen<br />
Bewertung bezahlter Tätigkeit, ist arbeitsbezogene<br />
Rehabilitation ein Stiefkind der <strong>Psychiatrie</strong>-Reform geblieben, vielleicht<br />
mit der Ausnahme Schwedens, einem Land, das nach<br />
Abschluss der ersten Etappen der <strong>Psychiatrie</strong>-Reform landesweit<br />
mehrere hundert Rehabilitationsprogramme und –Projekte aufgelegt<br />
hat, mit einer klaren Verlagerung der Zuständigkeit weg von der<br />
<strong>Psychiatrie</strong> in die allgemeine soziale Infrastruktur der Gemeinden.<br />
Ein mit öffentlichen Mitteln gefördertes Entlohnungsmodell unterstreicht<br />
dabei den »nichttherapeutischen« Charakter der Arbeit und<br />
trägt insofern zur Normalisierung des Arbeitslebens psychisch kranker<br />
und behinderter Personen bei.<br />
In den letzten 10–15 <strong>Jahre</strong>n haben sich europaweit Angehörige<br />
und Betroffene organisiert und einen gewissen Einfluss auf die weitere<br />
Entwicklung des Versorgungssystems genommen. Während auf<br />
europäischer Ebene Diskussionsbeiträge von Angehörigenorganisationen,<br />
z.B. EUFAMI, deutlich gehört werden, bleibt der Einfluss<br />
national in den meisten Ländern begrenzt. Allerdings hat das Gewicht<br />
der Angehörigen und ihrer Organisationen zugenommen, ganz<br />
besonders in England und den Niederlanden. Der von den Angehörigen<br />
eingeforderte »zivile Dialog« mit den Professionellen könnte<br />
daher schon bald in eine Form des demokratischen Miteinanders<br />
münden und in sofern das psychiatrische Versorgungssystem als<br />
Ganzes voranbringen.<br />
Das »Internationale Symposium« im Rahmen der Tagung <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong><br />
<strong>Psychiatrie</strong>-Enquete hatte den Anspruch und die Absicht, die<br />
deutsche Entwicklung in einen größeren europäischen Zusammenhang<br />
zu stellen. Zum einen, um die eigenen Fortschritte an denen<br />
der anderen Länder zu messen, gleichzeitig aber auch unsere Nachbarländer<br />
mit der hiesigen Situation vertraut zu machen. Den Veranstaltern<br />
scheint dieses Unterfangen gelungen zu sein.<br />
Aus Platzgründen konnten leider nicht alle Referate, die auf dem<br />
»Internationalen Symposium« gehalten wurden, in den vorliegenden<br />
Band aufgenommen werden. Insgesamt zehn Länder waren vertreten<br />
– Deutschland, England, Frankreich, Italien, Niederlande, Polen,<br />
Schweden, Spanien, Tschechien und Russland – lediglich die<br />
Beiträge aus England, Italien und Russland, aus Nutzerinnen- und