"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Thomas Becker und José Luis Vàzquez-Barquero Die europäische Perspektive psychiatrischer Reformen<br />
litik zur psychiatrischen Versorgung gegeben. Die Bedeutung von<br />
Tagesbetreuung und -Behandlung ist in den Reformprozessen unterschiedlich<br />
gewesen; auch ist die Rolle von Tagesangeboten zu verschiedenen<br />
Zeitpunkten unterschiedlich wichtig gewesen. Ebenso gilt, dass<br />
umfassende gemeindepsychiatrische Zentren (community mental<br />
health centres; mit den Ausnahmen von Deutschland und Russland)<br />
zu bestimmten Zeitpunkten zentrale Bausteine und Kristallisationspunkte<br />
der Reform gewesen sind. Es hat über die Zeit eine unterschiedlich<br />
starke Betonung des Zugangs zum Arbeitsmarkt für psychisch<br />
<strong>Kranke</strong> gegeben, auch hinsichtlich der Integration der<br />
psychiatrischen mit den Sozialdiensten hat es sowohl transnationale<br />
Unterschiede als auch Variation über die Zeit gegeben. Ohne Zweifel<br />
sind unterschiedliche betreute Wohnformen und Wohneinrichtungen<br />
außerhalb des psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhauses eine wichtige Komponente<br />
des Reformprozesses gewesen. In der ganzen europäischen<br />
Region hat es jeweils nationale Initiativen und politische Programme<br />
gegeben, dennoch hat es andererseits auch in breitem Umfang regionale<br />
und örtliche Variation gegeben. Somit sind die meisten Reformen<br />
durchaus auch als regionale Prozesse zu verstehen. Es entsteht<br />
der Eindruck, dass es bei den breiteren, sozialen und die Gemeindeintegration<br />
betreffenden Aspekten psychiatrischer Reformen weniger<br />
deutlichen Erfolg gegeben hat als bei den Veränderungen im psychiatrischen<br />
Versorgungssystem, obwohl Wechselwirkungen zwischen den<br />
beiden Themenbereichen bestehen.<br />
Tabelle 3 benennt einige einfache und allgemeine Eindrücke und<br />
Sichtweisen zu den Ergebnissen psychiatrischer Reformen. Die Expertinnen<br />
und Experten waren sich weitgehend einig, dass deutliche<br />
Fortschritte in vieler Hinsicht erzielt wurden, jedoch wiesen alle Expertinnen<br />
und Experten neben den erreichten Erfolgen auf Schwierigkeiten,<br />
Lücken im Versorgungssystem und offen gebliebene Probleme<br />
hin. Die Integration der psychiatrischen Versorgung mit der<br />
allgemeinmedizinischen Versorgung und der spezialisierten somatischen<br />
Gesundheitsversorgung liegt oft im Argen, auch die Integration<br />
von <strong>Psychiatrie</strong> mit den sozialen Diensten wird unterschiedlich und<br />
durchaus als verbliebene Schwierigkeit beurteilt, während es andererseits<br />
einen Konsens gibt, dass die Reformprozesse deutliche Auswirkungen<br />
für die Rolle und Beteiligung von Angehörigen und Patientinnen/Patienten<br />
oder Nutzerinnen/Nutzern psychiatrischer<br />
Dienste gehabt haben. Dabei ist die Entwicklung in die Richtung ei-<br />
284 285<br />
ner vermehrten Aufmerksamkeit bei <strong>Psychiatrie</strong>-Professionellen für<br />
die Sichtweisen und Interessen nicht-professioneller Expertinnen und<br />
Experten in dem Feld der Versorgungsgestaltung gegangen. Auch ist<br />
ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen und die erfahrene Unterstützung<br />
besser geworden (wenn auch durchaus nicht hinreichend).<br />
Es wird betont, dass die Belastungen für informelle Helferinnen und<br />
Helfer sowie Familienangehörige im Verlauf der Reformen deutlich<br />
zugenommen haben. Die Arbeitsplätze <strong>Psychiatrie</strong>-Professioneller<br />
sind viel variabler geworden, als sie dies vor 1975 waren. Schließlich<br />
haben sich Arbeitsweisen und -stil der in der <strong>Psychiatrie</strong> Tätigen im<br />
Verlauf der Reformprozesse deutlich geändert. Nicht in allen Ländern<br />
konnte hinsichtlich der Beteiligung von Nicht-Regierungsorganisationen<br />
und nicht-professionellen Gruppen an der Gestaltung der<br />
psychiatrischen Versorgung viel Fortschritt berichtet werden. Die dort<br />
zum <strong>Teil</strong> leer gebliebenen Zellen (in Tab. 3) könnten darauf hinweisen,<br />
dass es solchen Organisationen bis zuletzt schwer gefallen ist, ihren<br />
Beitrag zur <strong>Psychiatrie</strong>-Reform auszubauen. Insgesamt ist die Beurteilung<br />
der Ergebnisse europäischer psychiatrischer Reform schwierig,<br />
in der hier gewählten summarischen Weise kann eine Beurteilung<br />
von Reform-»Outcome« sicher nicht erfolgen. Alle angesprochenen<br />
Aspekte bedürfen der detaillierten Analyse, und die Arbeiten des Supplements<br />
sowie die hier in deutscher Fassung vorgelegten Beiträge<br />
wollen einen Beitrag zu einem vorläufigen, aber relativ breiten Kaleidoskop<br />
von <strong>Psychiatrie</strong>-Reformen in Europa leisten.<br />
Diskussion<br />
Es kann argumentiert werden, dass die Philosophie der <strong>Psychiatrie</strong>-<br />
Reform in europäischen Ländern implizit oder explizit auf einigen<br />
Kernprinzipien der Gemeindepsychiatrie beruht hat und gezieltes<br />
Handeln entlang der folgenden Achsen eingeschlossen hat:<br />
a) Deinstitutionalisierungsprozesse und Schließung der alten psychiatrischen<br />
<strong>Kranke</strong>nhäuser;<br />
b) Entwicklung alternativer gemeindepsychiatrischer Dienste und<br />
Programme;<br />
c) Integration der <strong>Psychiatrie</strong> mit den allgemeinen Gesundheitsdiensten;<br />
und<br />
d) Integration der Gemeindedienste mit den allgemeinen Sozialdiensten.