"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Boris Poloshij und Irina Saposhnikowa Die <strong>Psychiatrie</strong>-Reform in Russland<br />
bekommen hat, der allerdings einer weiteren Entwicklung bedarf.<br />
Aus diesem Grund ist es wichtig, zukünftige Perspektiven zu benennen<br />
(9):<br />
1. Wir halten es für bedeutsam, im Hinblick auf die Pathogenese<br />
psychischer Erkrankungen die Interaktion biologischer, sozialer<br />
und psychologischer Faktoren zu berücksichtigen. Dies ist<br />
eine theoretische Grundvoraussetzung modernen psychiatrischen<br />
Denkens. Eine Über- oder Unterschätzung eines dieser<br />
Faktoren führt notwendigerweise zu ernsthaften Fehleinschätzungen<br />
jeglicher psychiatrischen Theorie und Praxis.<br />
2. Der sozialpsychiatrische Ansatz im psychiatrischen Versorgungssystem<br />
muss gestärkt werden. Dabei ist zu beachten, dass Fortschritte<br />
in der Versorgung psychisch <strong>Kranke</strong>r zu einem beträchtlichen<br />
<strong>Teil</strong> der modernen Psychopharmakologie zu verdanken<br />
sind, die ihrerseits erst die Voraussetzungen für psychosoziale<br />
Behandlungsmethoden ermöglicht hat.<br />
3. Neue sozialpsychiatrische Ansätze müssen entwickelt und erprobt<br />
werden. In Russland müssen diese Konzepte an die sich verändernden<br />
sozioökonomischen Verhältnisse angepasst werden. Zwei<br />
Hauptziele sind dabei (I) die Entwicklung neuer Rehabilitationsmethoden.<br />
Die theoretischen Begründungen der früheren russischen<br />
Rehabilitations-<strong>Psychiatrie</strong> haben ihre Bedeutung nicht<br />
verloren, aber die gegenwärtige Praxis hat sich auf die neue sozioökonomische<br />
Situation einzustellen, die ungleichen Einkommensverhältnisse,<br />
die Herausbildung einer Marktwirtschaft, den<br />
Verlust von minderqualifizierten Arbeitsplätzen in der Industrie,<br />
Arbeitslosigkeit und das fehlende Interesse von Arbeitgebern,<br />
psychisch <strong>Kranke</strong> zu beschäftigen. Der andere Aspekt ist, dass (<strong>II</strong>)<br />
die sozialen Hilfssysteme für psychisch <strong>Kranke</strong> weiter entwickelt<br />
werden müssen. Dies erfordert die Aufrechterhaltung des traditionellen<br />
psychiatrischen Versorgungssystems, von Dispensaires,<br />
Tageskliniken, Reha-Werkstätten, beschützten Wohnangeboten<br />
und weiterer Dienste. Andererseits werden neue soziale Netzwerke<br />
benötigt. Dies könnte erleichtert werden durch die Gründung freigemeinnütziger<br />
Hilfsorganisationen, die Einrichtung von gemeindepsychiatrischen<br />
Zentren, beschützte Arbeitsplätze sowie<br />
Arbeitsmöglichkeiten mit beschränkter Arbeitszeit, Angehörigengruppen,<br />
bei denen sich deren Mitglieder auch wechselseitig<br />
unterstützen können, Patientinnenselbsthilfegruppen, spezielle<br />
316 317<br />
Dienste für ethnische Minoritäten usw. Die Entwicklung dieser<br />
neuen Hilfssysteme ist erst langsam im Kommen. Auch ist es<br />
wichtig, die russisch-orthodoxe Kirche in diese Anstrengung mit<br />
ein zubeziehen, da sie in dieser Beziehung über beträchtliche<br />
Erfahrung verfügt und in der Vergangenheit eine entsprechende<br />
Tradition hatte.<br />
4. Von großer Bedeutung ist ferner, im neuen Jahrtausend die<br />
<strong>Psychiatrie</strong> in die allgemeine Medizin zu integrieren, sodass sie<br />
zu einem <strong>Teil</strong> des medizinischen Versorgungssystems werden<br />
kann. Dies ist notwendig, um sicherzustellen, dass die <strong>Psychiatrie</strong><br />
zu einer medizinischen Spezialdisziplin unter anderen wird, mit<br />
vergleichbarem Wissen und Können, wie es in den anderen<br />
Fächern ebenfalls existiert. Dies wird (I) dazu beitragen, dass<br />
die psychiatrischen pathogenetischen Modelle genauer untersucht<br />
werden können und (<strong>II</strong>) das Gesamtgebiet seelischer Gesundheit<br />
in einer eher prinzipiellen und einer Menschenrechtsperspektive<br />
vorangebracht werden kann. Wenn die <strong>Psychiatrie</strong><br />
<strong>Teil</strong> der allgemeinen Medizin ist, so haben auch psychiatrische<br />
Patientinnen und Patienten die selben Rechte wie alle anderen,<br />
dies hat positive Auswirkungen auf öffentliche Haltungen und<br />
auf das Verhalten der Gesellschaft zu ihren psychisch kranken<br />
Mitbürgerinnen und Mitbürgern, es trägt dazu bei, deren soziale<br />
Situation zu verbessern und vermindert das Stigma psychischer<br />
Erkrankungen.<br />
5. Im Hinblick auf Drogen- und Alkoholmissbrauch ist zu fordern,<br />
dass präventive Ansätze gestärkt werden und darüber hinaus die<br />
existierenden Spezialdienste erhalten und stabilisiert werden.<br />
Wie können die oben genannten Aufgaben im russischen psychiatrischen<br />
Versorgungssystem angegangen und welche zukünftigen<br />
Einrichtungen sollten gefördert werden?<br />
� Abhängig von weiteren Fortschritten in der Psychopharmakotherapie,<br />
Psychotherapie und den sozialen Hilfssystemen ist<br />
es möglich, den Schwerpunkt der Behandlung mehr und mehr<br />
in den ambulanten Bereich zu legen. In Zukunft bedeutet dies,<br />
dass wir weniger psychiatrische Betten brauchen als es heute der<br />
Fall ist.<br />
� Der Aufbau eines Netzwerks psychiatrischer Abteilungen an<br />
Allgemeinkrankenhäusern ist ein wichtiger Baustein des psychi-