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"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.

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Boris Poloshij und Irina Saposhnikowa<br />

tientinnen und Patienten lässt nicht genügend Zeit für psychotherapeutische<br />

Aktivitäten. Der Schwerpunkt der psychiatrischen Arbeit<br />

ist ausgerichtet an Diagnosestellung, Medikamentenversorgung,<br />

Kliniks- bzw. Tageskliniksaufnahme sowie an sozialen Dingen. Gelegentlich<br />

müssen ergänzende Hilfen organisiert werden (z.B. psychologische,<br />

rechtliche, somatische Abklärungen usw.). Sofern Psychotherapie<br />

im engeren Sinne indiziert ist, überweist die Psychiaterin<br />

bzw. der Psychiater diese Patieninnen und Patienten an Psychotherapeutinnen<br />

und -therapeuten, die ebenfalls ambulant tätig sind. Die<br />

Aufrechterhaltung der Behandlungskontinuität zwischen dem stationären<br />

und ambulanten Bereich, die Information, ob eine Patientin<br />

bzw. ein Patient zur Entlassung oder zur Aufnahme ansteht, geschieht<br />

in der Regel telefonisch. Dies ist vor allem bei psychotischen<br />

oder schwer depressiven Patientinnen und Patienten notwendig. Bei<br />

der Entlassung einer Patientin oder eines Patienten aus stationärer<br />

Behandlung verfasst das <strong>Kranke</strong>nhaus einen Entlassungsbericht.<br />

Jedes Dispensaire ist eng verbunden mit einem zugeordneten <strong>Kranke</strong>nhaus,<br />

sodass Patientinnen und Patienten mit wiederholten<br />

Aufnahmen in der gleichen Abteilung behandelt werden können. Diese<br />

Regel hat indes Vor- und Nachteile. Dem Vorteil der Behandlungskontinuität<br />

steht die geringe Möglichkeit der Patientinnen und Patienten<br />

entgegen, die Behandlerin oder den Behandler zu wechseln.<br />

Allerdings gibt es auch die Möglichkeit zur Behandlung in einer<br />

Psychiatrischen Universitätsklinik oder in einer Forschungseinrichtung.<br />

Die meisten Ambulatorien verfügen über beschützte Arbeitsund<br />

auch über Rehabilitationsmöglichkeiten für ihre Patientinnen<br />

und Patienten.<br />

Im althergebrachten Versorgungssystem entwickelten sich die<br />

Ambulatorien eher in quantitativer als in qualitativer Hinsicht. In<br />

ihnen arbeiteten Psychiaterinnen/Psychiater, Psychotherapeutinnen/<br />

-therapeuten und <strong>Kranke</strong>npflegepersonal. Damals war es unvorstellbar,<br />

dass eine Psychologin bzw. ein Psychologe oder eine Sozialarbeiter<br />

bzw. -arbeiter in einem Ambulatorium tätig ist. Auch die<br />

Psychiaterinnen und Psychiater selbst versprachen sich nicht viel von<br />

derart multidisziplinärer Arbeit. Die Umgestaltung der Dispensaires,<br />

zu dieser Zeit noch nicht die Umgestaltung des gesamten Versorgungssystems,<br />

begann 1977 mit der Verselbstständigung der narkologischen<br />

Abteilungen. Auf der einen Seite waren die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter der Ambulatorien darüber erleichtert, dass<br />

Die <strong>Psychiatrie</strong>-Reform in Russland<br />

312 313<br />

sie die Drogen- und Alkoholpatientinnen und -patienten nicht mehr<br />

versorgen mussten, andererseits war den Psychiaterinnen und Psychiatern<br />

jetzt die Möglichkeit genommen, eigene Erfahrungen mit<br />

dieser Patientinnengruppe zu machen. Auch kamen jetzt weniger<br />

differenzialdiagnostische Überlegungen zum Tragen. Den narkologischen<br />

Ambulatorien wurde zudem die Möglichkeit eingeräumt,<br />

Tageskliniken zu eröffnen und eigene Rehabilitationsprogramme zu<br />

entwickeln. Auch durften sie anonyme Behandlungen durchführen.<br />

Trotz der Trennung der beiden Dienste sind den Dispensaires eine<br />

Gruppe chronischer Patientinnen und Patienten verblieben, vor allem<br />

solche mit einem sekundären Substanzgebrauch. Diese Patientinnengruppen<br />

den Narkologinnen und Narkologen zu überantworten<br />

wäre aus unserer Sicht unangebracht.<br />

Die anti-psychiatrische Kritik und das Dispensaire-System<br />

Im Zuge der öffentlichen Debatte über den Missbrauch der <strong>Psychiatrie</strong><br />

Ende der 80er-<strong>Jahre</strong> und der damit einhergehenden anti-psychiatrischen<br />

Kampagnen, reduzierte sich die in den Ambulatorien behandelte<br />

Patientinnengruppe sehr. Heilpraktikerinnen/-praktiker,<br />

Parapsychologinnen/-psychologen und Schwindler – alle ohne medizinische<br />

Vorbildung – wurden populär. Viele Patientinnen und<br />

Patienten waren begeistert davon, was jetzt passierte. Aggressive<br />

Angriffe von Patientinnen und Patienten gegen ihre behandelnden<br />

Psychiaterinnen und Psychiater im Rahmen eines psychotischen<br />

Rückfalls wurden häufiger. Einige Psychiaterinnen und Psychiater<br />

erlitten dadurch ernsthafte Gesundheitsschäden, auch kam es zu<br />

Todesfällen. Die Psychiaterinnen und Psychiater versuchten, einen<br />

tragfähigen Kontakt zu Patientinnen/Patienten und Angehörigen<br />

aufrechtzuerhalten, nicht bei allen gelang dies. Viele Patientinnen<br />

und Patienten kamen erst nach zwei oder drei <strong>Jahre</strong>n wieder in reguläre<br />

Behandlung, ihr Gesundheitszustand hatte sich zwischenzeitlich<br />

meist erheblich verschlechtert.<br />

Die anti-psychiatrische Kampagne ließ nur langsam nach. Hierzu<br />

trug auch das oben erwähnte Rundschreiben des Gesundheitsministeriums<br />

bei, das die Normalisierung der Situation förderte. Es<br />

wurde Ende 1987 verschickt und legte bindend fest, dass die ambulante<br />

psychiatrische Behandlung gegen den Willen der Patientin<br />

und des Patienten sich auf die schweren Störungen zu beschränken

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