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"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.

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Boris Poloshij und Irina Saposhnikowa<br />

Facharztweiterbildung, tragen aber wenig zur allgemeinen Versorgung<br />

bei. Psychiatrische Dispensaires übernehmen im Wesentlichen<br />

die ambulante Versorgung der Patientinnen und Patienten. Sie sind<br />

organisatorisch eigenständige Einheiten, die über Ärztinnen/Ärzte<br />

und Pflegepersonal verfügen und auch Hausbesuche durchführen.<br />

Die Kooperation und wechselseitige Information zwischen den stationären<br />

und ambulanten Diensten erfolgt üblicherweise über das<br />

Telefon und hängt in ihrer Qualität sehr von den lokalen Verhältnissen<br />

ab.<br />

Im 20. Jahrhundert war die Entwicklung des psychiatrischen<br />

Versorgungssystems sehr eng gekoppelt an die soziale und politische<br />

Situation im Lande. Wissenschaftliche und praktische Fortschritte<br />

lassen sich z.B. festmachen an der Eröffnung des ersten psychiatrischen<br />

Ambulatoriums (Dispensaire) in Moskau 1923, das eine neue<br />

Ära psychiatrischen Handelns markierte und eine Entwicklung einleitete,<br />

die schließlich in ein landesweites System sektorisierter Versorgung<br />

mündete. Die psychiatrischen Dispensaires waren Institutionen<br />

eines neuen Typs, die die bis dahin voneinander getrennten<br />

Beratungs- und ambulanten Behandlungsdienste der Gemeinden<br />

zusammenführten und auch die Einweisungen zur stationären Behandlung<br />

sowie die spätere Nachsorge der Patientinnen und Patienten<br />

übernahmen. Psychiaterinnen und Psychiater lernten so erstmals<br />

ihre Patientinnen und Patienten außerhalb der Klinik kennen<br />

und wurden auf diese Weise vertraut mit der »anderen Seite«, d.h.<br />

ihrem Alltagsleben und demjenigen ihrer Angehörigen. In den späten<br />

20er und frühen 30er-<strong>Jahre</strong>n wurden die ersten Tageskliniken<br />

für solche Patientinnen und Patienten eröffnet, die eine Behandlung<br />

in Krisen- und Rückfallsituationen benötigten, ohne dass sie deswegen<br />

zwangsweise hospitalisiert werden mussten. Mitte der 30er-<br />

<strong>Jahre</strong> arbeitete eine Gruppe namhafter Psychiaterinnen und Psychiater<br />

einen so genannten Pflichtenkatalog aus, der auch Anhaltszahlen<br />

hinsichtlich der Größe eines Einzugsgebietes der Dispensaires enthielt,<br />

aber auch Vorschriften über die Anzahl der Psychiaterinnen<br />

und Psychiater für eine definierte Region, die Anzahl der zu absolvierenden<br />

Hausbesuche, die Öffnungs- und Konsultationszeiten in<br />

den Ambulatorien usw. Einige dieser Normen sind noch in Kraft,<br />

andere wurden fallen gelassen.<br />

Die Fortschritte im psychiatrischen Versorgungssystem während<br />

der Sowjetzeit erstreckten sich auch auf die Rehabilitation psychisch<br />

306 307<br />

<strong>Kranke</strong>r, insbesondere die Einbeziehung gesellschaftlicher und sozialer<br />

Organisationen in den Rehabilitationsprozess selbst. Das System<br />

schloss Behindertenarbeitsplätze für stationäre und ambulante<br />

Patientinnen und Patienten mit ein, aber auch Rehabilitationsabteilungen<br />

in Industriefirmen sowie Wohnheime für psychisch <strong>Kranke</strong>.<br />

Es gab spezielle Arbeitsplätze für psychisch <strong>Kranke</strong> in industriellen<br />

und landwirtschaftlichen Betrieben und darüber hinaus öffentlich<br />

finanzierte arbeitsmedizinische Hilfen für psychisch <strong>Kranke</strong> am Arbeitsplatz<br />

selbst.<br />

Schwierigkeiten und Probleme<br />

Die <strong>Psychiatrie</strong>-Reform in Russland<br />

Unter dem Sowjetregime mit der ihm eigenen totalitären Ideologie<br />

kam es für die russische <strong>Psychiatrie</strong> zu erheblichen Problemen. Der<br />

Einfluss der Ideologie auf psychiatrisches Denken und Tun hatte<br />

verheerende Auswirkungen, insbesondere natürlich die Tatsache,<br />

dass westliche Literatur nicht zugänglich war und insofern manche<br />

Errungenschaften der modernen westlichen <strong>Psychiatrie</strong> nicht bekannt<br />

werden konnten. Dies betraf vor allem die Psychotherapie und<br />

die Sozialpsychiatrie. Auch gab es in den 70er-<strong>Jahre</strong>n die bekannten<br />

Fälle politischen Missbrauchs in der sowjetischen <strong>Psychiatrie</strong>,<br />

wie sie in der Zwischenzeit auch öffentlich diskutiert wurden (2).<br />

In den späten 80er und deutlicher noch Anfang der 90er-<strong>Jahre</strong><br />

wurde die russische Gesellschaft einem dramatischen Wandel unterworfen,<br />

der zur Herausbildung eines neuen sozialen und politischen<br />

Systems führte. Dank dieser demokratischen Reformen kam<br />

es zu vielen positiven Veränderungen. Im russischen Parlament, der<br />

Duma, wurde ein neues <strong>Psychiatrie</strong>gesetz verabschiedet, in dem auch<br />

die Menschenrechte für psychiatrische Patientinnen und Patienten<br />

garantiert wurden. Dieses Gesetz berücksichtigt in jeder Hinsicht<br />

internationale juristische, medizinische und soziale Standards und<br />

schützt die Rechte psychisch kranker Personen. Deswegen schien<br />

es zunächst so, dass die Zerschlagung des totalitären Regimes, die<br />

Einführung von Freiheit und Demokratie in Russland sowie die<br />

Befreiung der <strong>Psychiatrie</strong> von ideologischer Bevormundung sehr<br />

schnell zu bedeutsamen Verbesserungen in der psychiatrischen Versorgung<br />

der Bevölkerung führen würden. Die Wirklichkeit jedoch<br />

war komplizierter. Objektive Schwierigkeiten in der Übergangsperiode,<br />

wie z.B. soziale, politische und ökonomische Instabilität, der

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