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"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.

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Charlotte Köttgen<br />

Maryland. Die Gefängnisse dienen dort als Aufbewahrungsanstalten<br />

für psychisch <strong>Kranke</strong>. Die Kriminalisierung der Leidenden ist längst<br />

wieder Realität (VON BREDOW 1998).<br />

Wer also ist zuständig für die geschlossene Unterbringung?<br />

Wenn Jugendhilfe und -psychiatrie sich streiten, reden sie oft über<br />

verschiedene Gruppen. Das ist eine der Ursachen für viele Missverständnisse.<br />

Jugendliche mit einem vorhandenen tragfähigen, reflexionsbereiten<br />

familiären Umfeld, mit guter oder sehr guter Schulbildung<br />

können ambulante und stationäre – auch therapeutische –<br />

Angebote für sich nutzen und bei Besserung des Befindens in ihr<br />

familiäres und soziales Netz zurückkehren. Diese Familien und ihre<br />

Kinder profitieren von einem differenzierten Angebot an psychiatrisch-therapeutischen<br />

Hilfen. Sie kommen mit der Jugendhilfe meistens<br />

nicht in Berührung. Sie werden oft über Ärztinnen und Ärzte<br />

in die Kliniken eingewiesen. Anders verhält es sich mit einigen Jugendlichen,<br />

die kein familiäres und soziales Netz haben, das sie trägt.<br />

Für sie gilt:<br />

� »Je massiver das erlittene lebensgeschichtliche Trauma, desto<br />

ausgeprägter die Symptome und Verhaltensauffälligkeiten«, Tendenzen<br />

von Seiten der Institutionen in Richtung Abschiebung<br />

mehren sich.<br />

� Je häufiger Abschiebungen erfolgen, desto problematischer das<br />

Kind/der Jugendliche.<br />

� Die Schwierigkeiten potenzieren sich für alle Beteiligten.«<br />

(KÖTTGEN/KRETZER 1990).<br />

Das sind Bedingungen – besonders die wiederkehrenden Beziehungsverluste<br />

und/oder -abbrüche – die Grenzgänger zwischen den<br />

Institutionen des Schul- und Jugendhilfesystems, der <strong>Psychiatrie</strong> und<br />

des Strafsystems charakterisieren. Weder die Jugendhilfe noch die<br />

Jugendpsychiatrie bleiben nach Erreichen der Volljährigkeit verantwortlich<br />

für Folgen von Verschiebungen und Hospitalisierungen.<br />

Beide Sparten haben wenig Erfahrungen mit Langzeitverläufen.<br />

Jugendliche in öffentlicher Erziehung, ebenso wie in psychiatrischer<br />

Behandlung, sind nahezu ausnahmslos auf vielfältige Weise verletzt.<br />

Manche sind er- und beziehungsproblematisch weil sie in ihrer Entwicklung<br />

beeinträchtigt wurden. Sie haben aber ausnahmslos auch<br />

Erfahrungen mit der Frage nach der geschlossenen<br />

Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Hamburg<br />

166 167<br />

Stärken und Fähigkeiten, die hinter den Diagnosen und Etiketten<br />

verschwinden. Zu den Traumata neben der Ausstoßung aus der<br />

Familie gehören Trennungen der Eltern, Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen,<br />

Kriegseinwirkungen etc. In dem Buch »Wenn alle<br />

Stricke reißen« (KÖTTGEN 1998) habe ich in dem Kapitel »Lars oder<br />

wie man ein perfekter <strong>Psychiatrie</strong>patient wird«, die Geschichte eines<br />

Patienten beschrieben, der außerhalb der Institution <strong>Kranke</strong>nhaus<br />

kein Netz hat. Er wird auf die Institution <strong>Psychiatrie</strong> fixiert,<br />

indem er lernt, durch aggressives Verhalten die geschlossene <strong>Psychiatrie</strong><br />

zu zwingen, verantwortlich für ihn zu bleiben. Er hat sonst kein<br />

Zuhause. Wichtige Entwicklungsphasen draußen hat er verpasst. Er<br />

kennt sich nur mit den Regeln der Institution <strong>Psychiatrie</strong> aus, hier<br />

aber perfekt. Er bekommt nacheinander viele Diagnosen, die nicht<br />

zur Besserung beitragen. Er bessert sich, als sich ihm, durch eine<br />

Bezugsperson, die Verbindung zur Außenwelt anbietet, da aber sind<br />

viele <strong>Jahre</strong> vergangen. <strong>Psychiatrie</strong> und Patient waren – von außen<br />

betrachtet – unheilvoll, unentwirrbar in destruktiver Weise aneinander<br />

gekettet. Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie haben nicht ausreichend<br />

kooperiert.<br />

Worum geht es: Um die Interessen der Institutionen oder<br />

um den Anspruch auf soziale Sicherheit junger Menschen?<br />

Kinder und junge Menschen brauchen verlässliche, feste Beziehungspersonen,<br />

um sich zu entwickeln. Sie brauchen einen sicheren<br />

Lebensort und Förderung im Lern- und Sozialbereich. Wenn<br />

die Eltern ausfallen, sind Erzieherinnen/Erzieher und Pädagoginnen/Pädagogen<br />

als Ersatzeltern überlebenswichtig als ergänzende<br />

oder ersetzende Bezugspersonen. Kinder entwickeln ihre Identität<br />

nur in einem solchen Beziehungsgeflecht. Die Verantwortlichen in<br />

Gesellschaft und Politik sollen Bedingungen schaffen, die Kindern<br />

diese Sicherheit gibt. Falls jemand spezielle Hilfen braucht, wie schulische,<br />

berufliche oder therapeutische, so soll sein soziales Netz dadurch<br />

nicht zerstört werden, es soll vielmehr dort die Hilfe angeboten<br />

werden, wo jemand lebt.

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