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"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.

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habe. Auch gab es den Patientinnen und Patienten das Recht, aus<br />

eigenem Antrieb medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. In den<br />

folgenden zwei <strong>Jahre</strong>n stieg die Gruppe derjenigen Patientinnen und<br />

Patienten, die aus eigener Initiative Hilfe in Ambulatorien suchten<br />

von 20 auf 50 % an.<br />

Die neue Rechtslage<br />

Boris Poloshij und Irina Saposhnikowa Die <strong>Psychiatrie</strong>-Reform in Russland<br />

Das Rundschreiben des Gesundheitsministeriums legte auch fest,<br />

wie mit solchen Patientinnen und Patienten zu verfahren ist, die eine<br />

psychiatrische Untersuchung ablehnen. Früher war es so, dass eine<br />

derartige Untersuchung nur dann stattfinden durfte, wenn der Direktor/die<br />

Direktorin des territorialen Dienstes zustimmte. Diese<br />

Zustimmung war immer dann zu erhalten, wenn der Antrag dazu<br />

von Angehörigen, der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden<br />

Arzt oder auch einer Psychiaterin/einem Psychiater gestellt<br />

wurde und wenn die Gründe hierfür einleuchtend schienen. Ein<br />

derartiges Verfahren erleichterte natürlich die Arbeit der Psychiaterinnen<br />

und Psychiater in der Ambulanz, lud jedoch die Verantwortung<br />

einer einzigen Person auf, eben der Chef-Psychiaterin/dem<br />

Chef-Psychiater einer ganzen Region mit zum <strong>Teil</strong> mehreren Millionen<br />

Einwohnerinnen und Einwohnern. In Notfällen wurde demzufolge<br />

die Entscheidung hierüber doch von der Psychiaterin bzw.<br />

dem Psychiater im Ambulatorium getroffen. Das jetzige »<strong>Psychisch</strong><br />

<strong>Kranke</strong>n- und Hilfegesetz« hat einerseits diese Möglichkeiten beibehalten,<br />

gleichzeitig jedoch eine richterliche Überprüfung eingeführt.<br />

Die Verabschiedung und Umsetzung des Gesetzes aus dem <strong>Jahre</strong><br />

1993, des ersten <strong>Psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n- und Hilfegesetzes im Lande,<br />

war das nächste Ereignis von herausragender Bedeutung. Eine gemischte<br />

Kommission von Parlamentsabgeordneten, Juristinnen/Juristen<br />

und Psychiaterinnen/Psychiatern hat dieses Gesetz ausgearbeitet,<br />

das den Handlungsrahmen der Psychiaterinnen/Psychiater<br />

und ihrer Institutionen ebenso absteckt wie ihre Pflichten und Verantwortlichkeiten,<br />

aber auch die Rechte verankert, die Personen mit<br />

psychischen Erkrankungen zustehen.<br />

Aufgrund der neuen Gesetzeslage sind einige Dispensaires und<br />

auch einige Fachkliniken dazu übergegangen, Rechtsanwälte anzustellen,<br />

die Patientinnen und Patienten rechtlichen Rat geben.<br />

314 315<br />

Schwieriger war schon die Integration von Sozialarbeiterinnen und<br />

-arbeitern in das Behandlungsteam, da weder die Ambulatorien noch<br />

die Kliniken so recht etwas mit ihnen anzufangen wussten.<br />

Die neue Rechtssituation hat alles in allem viele Patientinnen<br />

und Patienten beruhigt und die Psychiaterinnen und Psychiater dazu<br />

gebracht, ihren Patientinnen und Patienten wieder Vertrauen und<br />

Respekt entgegen zu bringen. Die Wünsche und Überzeugungen der<br />

Patientinnen und Patienten werden seitdem ernster genommen und<br />

bei Behandlungsentscheidungen mit berücksichtigt; sie sind nicht<br />

mehr zu untersuchende und zu behandelnde Objekte, sondern<br />

Menschen mit einer eigenen Würde. Auf diese Weise wurden die<br />

ersten Schritte getan, die geeignet sind, von der bis jetzt praktizierten<br />

paternalistischen Haltung der russischen <strong>Psychiatrie</strong> wegzuführen.<br />

Eine moderne <strong>Psychiatrie</strong> ist ohne den Einbezug von Angehörigen<br />

nicht mehr denkbar. Angehörigengruppen oder gar -vereinigungen<br />

bildeten sich in Moskau sehr viel später als in Westeuropa.<br />

Das Ambulatorium, in dem eine der Autorinnen und Autoren<br />

(I.S.) tätig ist, kooperiert seit 1995 mit einer derartigen Gruppe.<br />

Ohne in die Pläne und Aktivitäten der Angehörigen einzugreifen,<br />

unterstützen die Professionellen die Angehörigen in jeder Hinsicht:<br />

mit Informationen über die Art ihrer Arbeit, über die einzelnen Hilfsmöglichkeiten,<br />

die rechtlichen und sozialen Aspekte, die eine große<br />

Rolle in den Familien mit einem psychisch kranken Angehörigen<br />

spielen. Regelmäßige monatliche Treffen mit einer großen Angehörigengruppe<br />

erlauben, die wesentlichen Probleme zu erkennen<br />

und die Anliegen der Angehörigen zu verstehen, auch und gerade<br />

dann, wenn sie mit den professionellen Angeboten nicht zufrieden<br />

sind. Es ist wohl noch zu früh, um über Erfolge zu sprechen, auf<br />

jeden Fall aber ist eine derartige Kooperation für alle Beteiligten von<br />

großer Bedeutung.<br />

Zusammenfassung<br />

Angesichts der komplizierten und weitreichenden Veränderungen<br />

hinsichtlich der seelischen Gesundheit und des psychiatrischen Versorgungssystems<br />

in Russland sind wir davon überzeugt, dass die<br />

psychiatrische Reform in der russischen Föderation als Ganzem, wie<br />

auch gerade in Moskau, einen zunehmend irreversiblen Charakter

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