"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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1. dem Psychotherapiebedarf,<br />
2. dem Spezialisierungsbedarf und<br />
3. dem Heimbedarf.<br />
1. Psychotherapiebedarf<br />
Klaus Dörner<br />
Institutionszentrierung schlägt sich hier z.B. in dem psychosomatischen<br />
Reha- und Kurklinik-Bettenberg nieder, der in Deutschland<br />
so groß ist wie im Rest der Welt, ohne dass sich jemand für diese<br />
potenzielle Milliardenverschleuderung interessiert. Um zu einem<br />
weiteren Beispiel zu kommen, habe ich über zwei <strong>Jahre</strong> in zwei Tageszeitungen<br />
alle Meldungen zu Prozentzahlen psychotherapeutisch<br />
behandlungsbedürftiger Leiden gesammelt: Angst, Depression, chronische<br />
Schmerzen, Schlaflosigkeit, Alkohol, Nikotinsucht, kindlicher<br />
Missbrauch, sexuelle Gewalt, Übergewicht, Essstörung, Behinderung,<br />
Hörschäden, Blutdruck, Demenz, Mobbing und Migräne.<br />
Wenn ich die jeweils schon werbewirksam hohen Prozentzahlen<br />
addiere, komme ich auf 201 %! All diese Meldungen, in denen meist<br />
renommierte Wissenschaftler zu Wort kommen, haben dasselbe<br />
Strickmuster: Erst erschrecken sie den Leser, dann aber trösten sie<br />
ihn, da es doch heute hoch effektive Psychotherapie-Methoden gebe,<br />
die sich zudem wunderbar mit ebenso effektiven Psychopharmaka<br />
ergänzen würden. In der unwahrscheinlicheren, daher anstrengenderen<br />
Perspektive der Personenzentrierung würde es hingegen darum<br />
gehen, zunächst 4/5 der psychosomatischen Reha- und Kurklinikbetten<br />
abzuschaffen und damit den Zauberberg-Zopf abzuschneiden,<br />
der sich noch der sozialen Befriedungspolitik Bismarcks verdankt<br />
und uns heute zur weltweiten Lachnummer macht. Wie in<br />
anderen Ländern wären die sinnvollen rehabilitativen und präventiven<br />
Leistungen vom lukrativen Bett zu trennen und ambulantkommunal<br />
anzubieten. Weiter würde es um die organisatorische<br />
Selbstbegrenzung der psychotherapeutischen Möglichkeiten gehen,<br />
wobei man – personenzentriert – sich zunächst auf die Psychotherapeutisierung<br />
der <strong>Psychiatrie</strong>, die begonnen hat, vor allem aber<br />
der stationären somatischen Medizin zu konzentrieren hätte (ohne<br />
neue Spezialbetten), in Bindung an die medizinische Indikation mit<br />
dem Kränksten beginnend. Diese Aufgabe wäre so groß, aber auch<br />
so sinnvoll, dass man guten Gewissens alle weiteren psychotherapeutischen<br />
Bedarfsexpansionsfragen vertagen könnte.<br />
2. Stationärer Spezialisierungsbedarf<br />
46 47<br />
Es entspricht der Institutionszentrierung, wenn sich in der letzten<br />
Zeit in den Gesundheitsministerien der Länder die Listen solcher<br />
psychiatrischer Patientengruppen häufen, für die von <strong>Kranke</strong>nhausträgern<br />
oder Universitätskliniken wegen ihrer besonderen Problematik<br />
stationäre Spezialangebote mit überregionalem, marktgesteuertem<br />
Einzugsbereich unter Aufhebung des Sektorprinzips<br />
gefordert werden. Inzwischen umfassen diese Listen bereits den<br />
größeren <strong>Teil</strong> des Gesamtspektrums der stationär behandlungsbedürftigen<br />
Patienten, obwohl es in der ganzen Welt bisher keine seriösen<br />
Vergleichsuntersuchungen gibt, die beweisen würden, dass ein<br />
stationäres Spezialangebot wirksamer wäre, während einigermaßen<br />
gesichert ist, dass eine monokulturelle Unterbringung psychiatrischer<br />
Patienten das Chronifizierungsrisiko erhöht. Personenzentrierung<br />
hingegen würde bedeuten, dass das Sektorprinzip so lange<br />
absoluten Vorrang hat, bis diese erste und vornehmste Norm der<br />
<strong>Psychiatrie</strong>-Enquete (Gemeindenähe) verwirklicht ist, d.h. bis alle<br />
stationären Einheiten die ausnahmslose Vollversorgung des Sektors,<br />
der Region garantieren, in der sie selbst geografisch lokalisiert sind,<br />
was vielerorts noch nicht erreicht ist. Damit hätte man nicht nur bei<br />
der Chancenverbesserung der Chancenlosesten begonnen, sondern<br />
damit wäre auch der Streit zwischen der Fachklinik und der psychiatrischen<br />
Abteilung am allgemeinen <strong>Kranke</strong>nhaus gegenstandslos;<br />
denn während z.B. die Fachklinik Mönchengladbach diese Norm<br />
schon erfüllt hat, können dies manche Abteilungen noch nicht von<br />
sich behaupten. Erst in dem Maße, wie dieses Ziel der <strong>Psychiatrie</strong>-<br />
Enquete wirklich erreicht wäre, könnte man überlegen, auf welche<br />
Weise ein wirklich rational gesicherter Spezialisierungsbedarf zu<br />
organisieren ist, ob innerklinisch, ob ambulant (wohin der Trend bei<br />
sich verkürzender Verweildauer ohnehin geht) oder ob in gegenseitiger<br />
Nachbarschaftshilfe.<br />
3. Heimbedarf<br />
Wie viel <strong>Psychiatrie</strong> soll, muss, darf sein?<br />
Die institutionszentrierte Perspektive der ersten Halbzeit der <strong>Psychiatrie</strong>-Reform<br />
hat den Heimbedarf erst hervorgebracht. Das Heimsystem,<br />
so wie es jetzt noch expandiert, ist ein Reform-Produkt, als<br />
wir zu schnell zu viel gewollt haben und uns daher nicht auf die