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"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.

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Toma Tomov <strong>Psychiatrie</strong>-Reform in Osteuropa<br />

was die jeweilige Situation gebot. Anders formuliert bedeutet dies,<br />

dass zu kommunistischen Zeiten ethische Fragen bezüglich seelischer<br />

Gesundheit niemals diskutiert wurden.<br />

Das Vorhandensein dieser zwei unterschiedlichen Realitäten<br />

führte dazu, dass der Versuch, Missstände aufzuzeigen versagte, da<br />

die gesamte Zuhörerschaft das aufgezeigte Problem nicht nachvollziehen<br />

konnte, da sie alle die andere Realität vor Augen hatten. Somit<br />

scheiterten alle Versuche, das bestehende System und somit die<br />

psychiatrische Versorgungslandschaft zu verändern. Veränderung als<br />

solche war in Osteuropa nicht mehr Bestandteil des täglichen Lebens,<br />

Veränderungen beziehungsweise Reformen konnten somit nur<br />

noch von außen kommen. Dies erklärt auch, warum psychiatrische<br />

Gesundheitsreformen in Osteuropa mit der genannten Fülle von<br />

Schwierigkeiten verbunden sind.<br />

Keine der Fokusgruppen stellte die Ethik institutioneller <strong>Psychiatrie</strong><br />

in Frage. Weder Patientinnen bzw. Patienten noch Ärztinnen<br />

bzw. Ärzte fanden es unethisch, die Institution <strong>Psychiatrie</strong> weiter zu<br />

betreiben, um die dort Beschäftigten weiter in Brot und Lohn zu<br />

halten. Keiner aus den Reihen der genannten Zielgruppen fragte<br />

sich, ob die Weiterführung der Großanstalten nicht als Vorwand<br />

genutzt wird, um gemeindenahe psychiatrische Strukturen zu verschieben.<br />

Den Zielgruppen gelang es somit nicht, sich als mündige<br />

Bürgerinnen und Bürger zu begreifen, sie glaubten nicht durch eine<br />

Eigeneinbringung eine Veränderung herbeiführen zu können.<br />

Eine weitere Folgerung der ANAP-Studie bezieht sich auf die<br />

Art und Weise in der derzeit Forschung in Osteuropa betrieben wird.<br />

Von den sechs regionalen Teams aus Aserbaidschan, Bulgarien, Ungarn,<br />

Kirgisistan, Litauen und der Ukraine waren die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter innerhalb dreier Arbeitsgruppen miteinander<br />

verwandt, die Auswahl der übrigen Mitglieder folgte in der Regel<br />

nach Freundschafts- oder anderen Vertrauensverhältnissen.<br />

Während der drei <strong>Jahre</strong> dauernden Studie wurden fünf gemeinschaftliche<br />

Konferenzen abgehalten, hierbei wurde jeweils ein Gutteil<br />

darauf verwandt, die Verantwortung unterschiedlicher Projekte<br />

im Rahmen der ANAP-Studie an außenstehende Sachverständige<br />

zu übergeben. Diese Sitzungen brachten in der Regel keine konstruktiven<br />

Lösungsansätze auf den Tisch, zeigten jedoch deutlich, welche<br />

Lasten und Verpflichtungen die einzelnen Arbeitsgruppen auf<br />

sich genommen hatten, indem sie sich dazu bereit erklärt hatten, die<br />

302 303<br />

wirklichen Bedürfnisse der psychisch kranken Menschen in ihren<br />

Heimatländern zu ergründen. Häufig kamen sich die Mitglieder<br />

dieser Arbeitsgruppen wie Dissidenten vor, sie waren sich alle darin<br />

einig, dass die offizielle Darstellung bezüglich der psychiatrischen<br />

Gesundheitssituation in den einzelnen osteuropäischen Ländern<br />

eine grobe Verdrehung der vorliegenden Fakten war. Im Nachhinein<br />

wird somit die große Bedeutung dieser Zusammenkünfte deutlich.<br />

Denn sie stellten in dynamischer Form die öffentliche Diskussion<br />

bezüglich ethischer Fragen der <strong>Psychiatrie</strong> in Osteuropa dar.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Demokratische und gesellschaftliche Entwicklungen sind mit den<br />

ethischen Bedenken der <strong>Psychiatrie</strong> in Osteuropa eng verzahnt.<br />

Hierbei kommt es zu einer großen Umwälzung, es tun sich neue<br />

Perspektiven auf und neue Werte scheinen von Bedeutung. Mit dem<br />

Abbau der totalitären Machtstrukturen wächst auch die Bedeutung<br />

der einzelnen Gemeinden und erste Anzeichen professioneller Zusammenarbeit<br />

belegen diese Entwicklung. Dennoch steht Osteuropa<br />

vor einer langen Reise, denn es gilt, den auch auf geistiger Ebene<br />

bestehenden Institutionalismus gegen eigenständiges Denken und<br />

Verantwortungsbewusstsein auszutauschen. Nur so kann unter den<br />

Menschen der Geist der Gemeinschaft wachsen. Nur dann wird<br />

gemeindenahe Versorgung für psychisch kranke Menschen wirklich<br />

möglich sein. Derzeit glaubt man, dass durch das Schließen psychiatrischer<br />

Großanstalten dem »Wahnsinn« freier Lauf gelassen würde.<br />

Dies liegt wohl daran, dass sich die Menschen nicht als Gemeinschaft<br />

begreifen und sich nicht zutrauen, gemeinsam den Kontrollverlust,<br />

welcher seelischen Erkrankungen manchmal eigen ist, in<br />

Behandlung und integrierenden Schutz aufzunehmen.<br />

Literatur<br />

1. WING J & BROWN G. Institutionalism and Schizophrenia. Cambridge:<br />

Cambridge University Press, 1970.<br />

2. JENKINS R., KESSLER R., LEAF P., SCOTT J. Systems of psychiatric care –<br />

principles and desiderata of good services. In HELMCHEN H., HENN F.,

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