Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe
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231 Kausalitat und <strong>Freiheit</strong> als kosmologisches Problem<br />
thesis <strong>der</strong> Bedingungen ist an sich unendlich. Kurz gefaßt lautet<br />
jetzt <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>streit: Die Natur ist endlich - die Natur ist<br />
nicht endlich, unendlich. Eine solche Gegenstellung nennt man<br />
einen einfachen Wi<strong>der</strong>spruch (Kontradiktion). Sofern wir nun<br />
den Wi<strong>der</strong>streit als einfachen, >geraden< Wi<strong>der</strong>spruch nehmen,<br />
d. h. so, wie ihn die gemeine Vernunft nimmt und die Glie<strong>der</strong><br />
gegeneinan<strong>der</strong> ständig ausspielt, dann ist dabei vorausgesetzt,<br />
daß die Natur (Weltsein) ein Ding an sich, d. h. schlechthin,<br />
im ganzen absolut für uns gegeben ist, absolut erkannt. Bei<br />
dieser Voraussetzung ist verschwiegen, daß die Natur als<br />
Grundbegriff <strong>der</strong> Erscheinungen gar nicht die absolute Existenz<br />
ausmacht. Weil sie nicht das An-sieh-Sein ist, kann we<strong>der</strong> gesagt<br />
werden, sie ist an sich endlich, noch, sie ist an sich unendlich.<br />
Die Voraussetzung bei<strong>der</strong> Sätze, <strong>der</strong> Thesis wie <strong>der</strong> Antithesis,<br />
ist gleichmäßig falsch. Nehme ich diese falsche Voraussetzung,<br />
d. h. diesen Schein weg, dann verwandelt sich <strong>der</strong><br />
vermeintlich echte Wi<strong>der</strong>streit als Wi<strong>der</strong>spruch in einen scheinbaren<br />
Wi<strong>der</strong>streit, d. h. in eine dialektische Opposition. Beide<br />
Sätze wi<strong>der</strong>sprechen sich nicht nur, son<strong>der</strong>n beide sagen mehr,<br />
als es zum Wi<strong>der</strong>spruch erfor<strong>der</strong>lich ist, und dieses Mehr liegt<br />
darin, daß sie das, worüber sie reden, als Ding an sich ausgeben,<br />
als das, was es nicht ist. Sie arbeiten mit einem Schein<br />
und zwar, wie wir sahen, mit einem solchen, <strong>der</strong> <strong>der</strong> natürlichen<br />
gemeinen Vernunft notwendig ist. 4<br />
Der Wi<strong>der</strong>streit wird gehoben durch den Nachweis einer falschen<br />
Voraussetzung, daß Erscheinungen als Dinge an sich genommen<br />
sind, d. h. daß beide nicht unterschieden sind. Die<br />
Unterscheidung ist aber im Interesse <strong>der</strong> reinen Vernunft notwendig,<br />
wenn sie sich selbst in ihren eigenen echten Möglichkeiten<br />
und damit Notwendigkeiten durchsichtig werden soll.<br />
Diese Unterscheidung aber von Ding an sich und Erscheinung<br />
ist nichts an<strong>der</strong>es als die von endlicher und unendlicher Erkenntnis<br />
und d. h., das Problem <strong>der</strong> reinen Vernunft muß als<br />
4 V gl. a.a.O., A 506, B 534<br />
§ 24. Vorbereitende (negative) Bestimmungen 235<br />
Problem <strong>der</strong> endlichen reinen Vernunft erkannt werden. Darin<br />
liegt weiter, daß die Endlichkeit <strong>der</strong> Menschennatur auch aus<br />
und im <strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis ihre Bestimmung finden muß.<br />
Die Endlichkeit <strong>der</strong> Erkenntnis aber in ihrem <strong>Wesen</strong> zu umgrenzen,<br />
ist die Grundaufgabe, die sich die »Kritik <strong>der</strong> reinen<br />
Vernunft« in ihrem ersten positiven grundlegenden Teil stellt.<br />
Wenn daher die Auflösung <strong>der</strong> Antinomien als eine solche sich<br />
ergibt, die nur möglich ist aufgrund <strong>der</strong> genannten Unterscheidung,<br />
so ist die Antinomienlehre für Kant zugleich <strong>der</strong> indirekte<br />
Beweis für das, was die transzendentale Ästhetik positiv<br />
zu beweisen hatte. Kant spricht das unzweideutig aus und bekundet<br />
damit selbst das Anliegen <strong>der</strong> »Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft«.<br />
Jetzt begreifen wir, warum das Antinomienproblem<br />
<strong>der</strong> entscheidende Anstoß zu Kants »Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft«<br />
werden konnte: weil es zu seiner Auflösung notwendig<br />
die Besinnung auf den Unterschied von Erscheinung und Ding<br />
an sich, von endlicher und unendlicher Erkenntnis for<strong>der</strong>t; genauer,<br />
weil dieses Problem dazu zwang, diesen Unterschied<br />
allererst als einen solchen zu entdecken und als Zentrum aller<br />
weiteren Problematik <strong>der</strong> Metaphysik festzuhalten.<br />
Freilich sehen wir auch in <strong>der</strong> kritischen Erörterung <strong>der</strong> Metaphysica<br />
specialis dieselbe Grundhaltung Kants, wie er sie in<br />
<strong>der</strong> kritischen Umgrenzung und Bestimmung <strong>der</strong> Metaphysica<br />
generalis (Ontologie) befolgte. Die Endlichkeit des Menschen<br />
wurde nicht entschlossen und von Grund aus Thema in Absicht<br />
auf das Problem einer Grundlegung <strong>der</strong> Metaphysik überhaupt<br />
und in den Grenzen dieses Problems. Kant begnügt sich, und<br />
für seine nächsten Zwecke mit Recht, zum Beispiel in <strong>der</strong> Antinomienlehre<br />
mit <strong>der</strong> Aufweisung des Wi<strong>der</strong>streits, mit ihrer<br />
Auflösung und damit dem Hinweis auf den in <strong>der</strong> Menschennatur<br />
liegenden natürlichen Schein. Die natürliche Vernunft ist<br />
gemeine Vernunft, sofern sie wesentliche Unterschiede einebnet,<br />
gemein macht, bzw. überhaupt nicht aufkommen läßt.<br />
Zur Natur <strong>der</strong> <strong>menschlichen</strong> Vernunft gehört diese Gemeinheit.<br />
Das gilt es nicht nur umfassen<strong>der</strong> und ursprünglicher zu