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Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe

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96 Die Leitfrage <strong>der</strong> Philosophie und ihre Fraglichkeit<br />

JtAELW dvm. 26 Es ist nichts an<strong>der</strong>es als die Interpretation des<br />

Wasseins und des Soseins des Seienden. Wir können aus dieser<br />

Interpretation den handgreiflichsten Beleg für unsere allgemeine<br />

These über das Sein entnehmen. Sein heißt als Sein des Wasseins<br />

(Stofflichkeit <strong>der</strong> Kreide) Beisammenliegen, auyxELa{tm. Wir<br />

erinnern uns aber, daß das UJtOXEL[tEVOV besagt UJtO[tEVOV. Also besagt<br />

auyxELa{tm nicht einfach nur zusammen vorliegen als zusammen<br />

gegeben, son<strong>der</strong>n von vornherein zusammenbleibend, ständige<br />

Beisammenheit, d. h. ständige Mitanwesenheit des einen<br />

mit dem an<strong>der</strong>en. Die Kreide selbst liegt in dem, was sie selbst<br />

ist, mit Stofflichkeit zusammen, ständig mitbleibend. Dagegen<br />

sind Kreide und Lügenhaftigkeit ein ständiges Un-beisammen,<br />

nie trägt die Kreide als solche <strong>der</strong>gleichen mit sich, es kann sich<br />

überhaupt <strong>der</strong>gleichen mit ihr nie einstellen. Es muß ständig<br />

ausbleiben, ist ständige Abwesenheit des einen vom an<strong>der</strong>en. 27<br />

Schließlich gibt es solches, was nie ständig, nie nur anwesend ist,<br />

son<strong>der</strong>n was unbeständig, bald anwesend ist, bald nicht, was<br />

anwesend ist, bleibt, bald nicht anwesend ist, ausbleibt. Das unständig<br />

Ausbleibende ist das zu einem jeden Anwesenden Herein-,<br />

Zu- und Dazufallende, das Zufällige. Wenn man nun nicht<br />

von vornherein für die Interpretation im Blick hat, daß Sein beständige<br />

Anwesenheit besagt, dann kommt man an dieser entscheidenden<br />

Stelle des Aristoteles überhaupt nicht durch, nicht<br />

einmal zum ersten Schritt.<br />

Wir haben jetzt zwei Grundarten des Seins: OUyxELo{tm und<br />

oU[tßEßrptEvm. Dabei ist nun recht zu beachten als etwas Entscheidendes:<br />

Jede dieser Arten des Seins hat ihre spezifische<br />

Weise des Nichtseins, <strong>der</strong> Abwesenheit. Dies zu beachten ist entscheidend.<br />

Zur ersten Art des Seins als solchen gehört ein bestimmtes<br />

mögliches Nichtsein. Die zweite Art ist ohnehin in sich<br />

immer ein gewisses Nichtsein. Und jetzt erst, nachdem Aristoteles<br />

diese Arten des Seins (Wassein und Sosein) eines Seienden be-<br />

26 a.a.O., e 10, 1051 b 9 ff.<br />

27 Vgl. Platon, Euthydemos. Die schönen Dinge und die Schönheit; 1tUeouaLu<br />

..<br />

§ 9. Sein, Wahrheit, Anwesenheit 97<br />

stimmt hat, geht er über zum eigentlichen Problem, d. h. zur<br />

Frage: Wann und wie ist das diesen verschiedenen Arten von<br />

Seiendem entsprechende Wahrsein und die entsprechende Entborgenheit<br />

(Entdecktheit) möglich? Er beginnt mit <strong>der</strong> Interpretation<br />

<strong>der</strong> Entborgenheit des Seienden, das bald so, bald an<strong>der</strong>s<br />

sein kann, beim uneigentlichen Seienden, dessen Sein dem <strong>Wesen</strong><br />

des Seins: beständige Anwesenheit, am wenigsten genügt, ihm<br />

gegenüber mangelhaft bleibt, unbeständig und eben deshalb zuweilen<br />

abwesend ist. Falls solche Entdecktheit überhaupt ist,<br />

wann und wie ist die Entdecktheit (Wahrheit) des unbeständig<br />

Ausbleibenden, des Zufälligen? Die Entborgenheit des Zufälligen<br />

ist nicht immer und zwar gerade dann nicht, wenn das<br />

Zufällige solches ist, wie es ist. Es liegt im <strong>Wesen</strong> des zufällig<br />

Seienden als Seienden, daß die ihm zugebörige Wahrheit nicht<br />

immer ist, was sie sein will- Wahrheit. Die Wahrheit wird zur<br />

Unwahrheit. Es liegt also primär nicht etwa an uns, dem erfassenden<br />

Menschen, nicht daran, daß wir uns zuweilen irren und<br />

verkehrt denken. Wie ist denn die Entborgenheit des Zufälligen,<br />

daß sie ihrem <strong>Wesen</strong> nach nicht immer ist, was sie ist, daß sie, die<br />

Entborgenheit, selbst zur Unwahrheit werden kann, und zwar<br />

daß ohne unser Erfassen das Seiende sich än<strong>der</strong>t? Wir sehen diese<br />

Kreide und sagen aus: »Die Kreide ist weiß«. Das ist eine wahre<br />

Aussage, weil sie in sich aufnimmt und das enthält, was diese<br />

Kreide in ihrer Unverborgenheit ist. Wir behalten diese wahre<br />

Aussage, verwahren diese Wahrheit und gehen damit nach<br />

Hause. Wir können zusammenkommen und uns über den Gegenstand<br />

unterhalten, ihn in <strong>der</strong> Vergegenwärtigung beschreiben.<br />

Inzwischen aber hat irgendjemand die Kreide rot angestrichen,<br />

o<strong>der</strong> sie hat aus irgendwelchen Gründen, die prinzipiell möglich<br />

sind, ihre Farbe geän<strong>der</strong>t, dann ist unsere wahre Aussage unwahr<br />

geworden, ohne daß wir an ihr etwas än<strong>der</strong>ten. Ja, gerade<br />

weil unsere wahre Aussage unverän<strong>der</strong>t festgehalten wird, gerade<br />

deshalb wird sie unwahr, einfach durch das Seiende selbst<br />

und dessen Art zu sein, bald so, bald so. Umgekehrt, eine verstellende<br />

Aussage: »Die Kreide ist rot«, kann entdeckend wer-

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