Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe
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294 Der zweite Weg zur <strong>Freiheit</strong> im kantischen System<br />
und nachträglich hergerichtet werden könnte. Wir begreifen<br />
nicht, daß wirkliches Wollen, d. h. wesentliches Wollen, von<br />
selbst, in sich und von Grund aus schon in das Einverständnis<br />
mit den an<strong>der</strong>en setzt; welche Gemeinschaft ist nur kraft<br />
des Geheimnisses, des verschlossenen wirklichen Wollens des<br />
Einzelnen.<br />
Wenn wir all das recht verstehen, dann wird zugleich klar:<br />
Die entscheidende Einsicht im Verstehen des Sittengesetzes liegt<br />
nicht darin, daß wir irgendeine Formel zu wissen bekommen<br />
o<strong>der</strong> irgendein Wert uns vorgehalten wird, eine Formel, die,<br />
gar noch auf einer Gesetzestafel angebracht, über uns und an<br />
sich über allen Menschen schwebt, und die einzelnen Menschen<br />
nur die Verwirklicher des Gesetzes wären, wie die einzelnen<br />
Tische in ihrer Art das <strong>Wesen</strong> des Tisches an sich verwirklichen.<br />
Nicht eine Formel und Regel bekommen wir zu wissen, son<strong>der</strong>n<br />
wir lernen gerade verstehen den Charakter <strong>der</strong> einzigartigen<br />
Wirklichkeit dessen, was im Handeln und als Handeln<br />
wirklich wird und ist. 4 Allerdings, Kant bleibt weit davon entfernt,<br />
diese Tatsächlichkeit als solche ausdrücklich zu einem zentralen<br />
metaphysischen Problem zu machen und auf diesem<br />
Wege die begriffliche Durchdringung <strong>der</strong>selben ins Dasein des<br />
Menschen überzuführen, um damit an die Schwelle einer grundsätzlich<br />
an<strong>der</strong>en Problematik zu gelangen. Das ist mit ein<br />
Grund , weshalb Kants Einsichten im Entscheidenden für die<br />
philosophische Problematik als solche wirkungslos geblieben<br />
sind.<br />
Trotz alldem muß aber festgehalten werden: Kant hat die<br />
Eigenart des willentlichen Wirklichen als Tatsache zentral erfahren<br />
und aus dieser Erfahrung die Problematik <strong>der</strong> praktischen<br />
Vernunft wesentlich bestimmt, in den Grenzen, die er<br />
für möglich und notwendig hielt. Die Tatsächlichkeit <strong>der</strong> Tatsache<br />
einer reinen praktischen Vernunft steht je<strong>der</strong>zeit bei uns<br />
selbst und je nur bei uns selbst. Dieses in <strong>der</strong> Weise, daß wir<br />
4 V gl. das Verhältnis des ,Guten< und des Sittengesetzes. Jenes bestimmt<br />
sich durch dieses, nicht umgekehrt.<br />
§ 28. Das Bewußtsein <strong>der</strong> <strong>menschlichen</strong> <strong>Freiheit</strong> 295<br />
uns für das gesollte reine Wollen entscheiden, d. h. wirklich<br />
wollen, o<strong>der</strong> gegen es, d. h. nicht wollen, o<strong>der</strong> in Verwirrung<br />
und Unentschiedenheit Wollen und Nichtwollen vermischen.<br />
Diese Tatsächlichkeit des Wollens ist selbst je nur zugänglich in<br />
einem Erfahren und Wissen, das aus solchem Wollen und<br />
Nichtwollen erwächst, besser, in solchem gerade schon besteht.<br />
Die Wirklichkeit des reinen Willens umgrenzt nicht einen Bereich<br />
eines zunächst gleichgültig uns gegenüber Vorhandenen,<br />
in den wir uns dann hineinbegeben o<strong>der</strong> nicht, im Wollen o<strong>der</strong><br />
Nichtwollen, son<strong>der</strong>n dieses Wollen o<strong>der</strong> Nichtwollen läßt dieses<br />
Wirkliche erst geschehen und in seiner Weise sein.<br />
Dieses reine Wollen ist die Praxis, durch die und in <strong>der</strong> das<br />
Grundgesetz <strong>der</strong> reinen praktischen Vernunft allein Wirklichkeit<br />
hat. Der reine Wille ist nicht ein seelisches Vorkommnis<br />
das sich nach einer sogenannten Schau des Werts eines an sich<br />
seienden Gesetzes diesem gemäß benimmt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> reine<br />
Wille macht allein die Tatsächlichkeit des Gesetzes <strong>der</strong> reinen<br />
praktischen Vernunft aus. Nur sofern und weil er will ist das<br />
Gesetz.<br />
'<br />
Nunmehr verstehen wir die Tatsächlichkeit einer reinen<br />
praktischen Vernunft und ihres Gesetzes. Wir verstehen, es ist<br />
ein und dasselbe, wann und wie hier Tatsachen sind und anzutreffen<br />
sind, und wann und wie die Tatsache <strong>der</strong> reinen praktischen<br />
Vernunft und ihres Gesetzes erweisbar und erwiesen ist.<br />
Jetzt erst sind wir hinreichend vorbereitet für die in <strong>der</strong> Leitthese<br />
beschlossene Aufgabe: Die objektive Realität, d. h. die<br />
praktische Realität, die spezifische Tatsächlichkeit <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong><br />
läßt sich nur dartun durch die Tatsächlichkeit des Gesetzes<br />
<strong>der</strong> reinen praktischen Vernunft.<br />
Welchen Gang muß die Beweisführung nehmen? Wenn wir<br />
so fragen, verstehen wir das Problem nicht. Dürfen wir uns<br />
denmach überhaupt nicht weitläufig um die Art <strong>der</strong> Beweisführung<br />
kümmern? Sollen wir uns einfach anschicken, den Beweis<br />
<strong>der</strong> Tatsächlichkeit <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> wirklich zu führen? Auch das<br />
ist ein Mißverständnis des Problems. Denn <strong>der</strong> Beweis ist schon