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Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe

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290 Der zweite Weg zur <strong>Freiheit</strong> im kantischen System<br />

Sobald wir wirklich wollen, können wir dabei erfahren, daß,<br />

wie Kant sagt, die menschliche Vernunft >>unbestechlich und<br />

durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer<br />

Handlung je<strong>der</strong>zeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich<br />

selbst, indem sie sich als apriori praktisch betrachtet«.2 Im<br />

wirklichen Wollen erfahren wir, daß das <strong>Wesen</strong> des Wollens,<br />

das Wollen um des Willens selbst willen, for<strong>der</strong>t, gewollt zu<br />

sein. Ob die Ausführung des so Gewollten faktisch gelingt o<strong>der</strong><br />

nicht, ist sekundär; genug, daß im wirklichen Wollen das Faktum<br />

des Sollens sich bekundet. Im wirklichen Wollen bringen<br />

wir uns selbst in die Lage, uns so o<strong>der</strong> so bezüglich des Bestimmungsgrundes<br />

unseres Handelns entscheiden zu müssen. Aber,<br />

wird man sagen, nun verschiebt sich alles auf das wirkliche<br />

Wollen. Nur wenn dieses wirklich ist, besteht die Wirklichkeit<br />

<strong>der</strong> reinen praktischen Vernunft, wenn wir nicht wirklich wollen,<br />

dann besteht diese Wirklichkeit nicht. So wie wenn ein<br />

Stuhl nicht hergestellt wird, er auch nie vorhanden sein kann.<br />

Doch schon verfallen wir wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Irrmeinung, die die Wirklichkeit<br />

des Willens an <strong>der</strong> Wirklichkeit eines vorhandenen<br />

Dinges mißt.<br />

Auch wenn wir uns nicht entscheiden, son<strong>der</strong>n uns etwa<br />

drücken, o<strong>der</strong> Scheinmotive unseres HandeIns uns ein- und vorreden,<br />

haben wir uns entschieden, nämlich zur Abkehr vom<br />

Sollen. In dieser Abkehr vom Sollen liegt gerade die stärkste<br />

Erfahrung, daß es als Sollen Faktum ist. In diesem Nichtwollen<br />

als einer bestimmten Art von Wollen liegt ein bestimmtes<br />

Wissen um dieses, daß wir eigentlich und was wir eigentlich<br />

sollten. Die Wirklichkeit des Wollens fängt nicht dort an, wo<br />

ein Willensakt vorhanden ist, und hört erst recht nicht auf, wo<br />

wir nicht ernsthaft wollen. Dieses Nicht-ernsthaft-wollen,<br />

d. h. Sichtreiben- und es darauf Ankommen-lassen ist gerade<br />

ein ausgezeichneter und vielleicht sogar <strong>der</strong> häufigste Modus<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit des Wollens, weshalb wir diese so gründlich<br />

und meist übersehen, uns darin versehen.<br />

2 a.a.O., S. 37 (V, 56).<br />

§ 28. Das Bewußtsein <strong>der</strong> <strong>menschlichen</strong> <strong>Freiheit</strong> 291<br />

Nun dürfte klar geworden sein: Solange wir uns nur so<br />

vorhanden dahintreibend beobachten und analysieren, werden<br />

wir nie das Faktum des Sollens antreffen, selbst wenn wir sogar<br />

unser Handeln und Wollen beobachten in <strong>der</strong> Weise, daß<br />

wir es als physische Vorkommnisse nehmen. Die Wirklichkeit<br />

des W ollens ist nur im Wollen dieser Wirklichkeit. Darin erfahren<br />

wir das Faktum, daß reine Vernunft für sich allein<br />

praktisch ist, d. h. daß <strong>der</strong> reine Wille als <strong>Wesen</strong> des Willens<br />

als Bestimmungsgrund desselben sich meldet. Gewiß, möchte<br />

man sagen, dieses Faktum einer unbedingten Verpflichtung<br />

mag bestehen, und offensichtlich hängt es mit dem zusammen,<br />

was wir das Gewissen nennen. Noch mehr sei zugegeben, daß<br />

offenbar hier eine ganz eigentümliche Tatsächlichkeit von Tatsachen<br />

vorliegt, die mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> vorhandenen Dinge nicht zusammengebracht<br />

werden kann, weshalb es auch sinnlos ist, etwa<br />

durch Fragebogen feststellen zu wollen, ob <strong>der</strong>gleichen wie Gewissen<br />

vorhanden ist o<strong>der</strong> nicht. O<strong>der</strong> durch ethnologische,<br />

völkerpsychologische Forschungen beweisen zu wollen, daß gewisse<br />

Völkerstämme kein Gewissen haben bzw. kein Wort dafür<br />

und <strong>der</strong>gleichen. Als ob Ethnologie so etwas beweisen<br />

könnte, als ob es etwas für o<strong>der</strong> gegen die Tatsächlichkeit des<br />

Gewissens besagte, wenn festgestellt wird: Gewissen gibt es<br />

nicht überall und zu je<strong>der</strong> Zeit.<br />

Doch wenn wir uns all <strong>der</strong>gleichen Mißdeutungen fernhalten,<br />

so folgt daraus doch nicht, daß das Grundgesetz <strong>der</strong> reinen<br />

praktischen Vernunft auf die Formel des kantischen Kategorischen<br />

Imperativs gebracht werden muß. Allerdings, an <strong>der</strong><br />

Formel liegt es gewiß nicht. Es ist auch gar nicht gemeint, daß<br />

<strong>der</strong> sittlich Handelnde, um sittlich zu handeln, gleichsam an die<br />

Formel sich halten und sie ausdrücklich bereit haben müßte.<br />

Die Formel ist immer eine philosophische Interpretation und<br />

<strong>der</strong>en sind verschiedene möglich, wie wir denn auch bei Kant<br />

selbst eine Reihe verschiedener Interpretationen antreffen.<br />

Aber unbeschadet <strong>der</strong> möglichen Verschiedenheit <strong>der</strong> Formulierungen<br />

und Richtungen <strong>der</strong> Interpretation, so meinen sie

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