Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe
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92 Die Leitfrage <strong>der</strong> Philosophie und ihre Fraglichkeit<br />
§ 9. Sein, Wahrheit, Anwesenheit<br />
93<br />
d) Das griechische Verständnis <strong>der</strong> Wahrheit (aA~{}wl)<br />
als Entborgenheit. Das Wahrseiende (a":Yl{}E~ ov) als das<br />
eigentlichste Seiende (x'UQl6nutov ov).<br />
Das eigentlichste Seiende als das Einfache und beständig<br />
Anwesende<br />
Aristoteles stellt nun das Problem: rcOt' EOtlV l] 011X EOtl tO aA'l1{}E~<br />
AE"yO~EVOV l] "'Euöo~23 - falls Wahrheit ist, dieser Fall als solcher<br />
wird nicht diskutiert. Wann ist und wann ist nicht das Wahrseiende<br />
ein solches, d. h. wann ist das Seiende ein solches, daß<br />
es wahr sein kann? Wie muß das Sein des Seienden sein, damit<br />
es ein wahres, entborgenes sein kann. Wann kann das<br />
Seiende eigentlich wahr sein, wann ist es eigentlich wahr als ein<br />
solches? Ich entfalte das Problem vorgreifend. Antwort: Wenn<br />
jede Möglichkeit <strong>der</strong> Unwahrheit am Seienden in je<strong>der</strong> Hinsicht<br />
ausgeschlossen ist. Wann ist das und was heißt dabei Wahrheit?<br />
Wenn zu Sein Wahrheit gehört. Wie ist das möglich? Wenn das<br />
Wahrsein das Eigentlichste am Sein als solchem ausmacht. Sein<br />
aber ist was? Beständige Anwesenheit. Wenn also Wahrheit<br />
selbst nichts an<strong>der</strong>es besagt als höchstmögliche und eigentliche<br />
Anwesenheit, dann ist Wahrheit. Das ist eine, ja die reinste metaphysische<br />
Frage und hat mit sogenannter Erkenntnistheorie<br />
nichts zu tun. Wie kann Wahrsein zum Sein des Seienden gehören?<br />
Was ist das Wahrsein selbst, daß es zum Sein des<br />
Seienden gehören kann? Aristoteles muß unter an<strong>der</strong>em im<br />
Grunde so fragen, wenn er zeigen will, daß das Wahrsein nicht<br />
nur zum Seienden gehört, son<strong>der</strong>n das Eigentlichste am Sein<br />
des Seienden ausmacht: aA'l1{}E~ ovals x'U!?l{OtUTOV ov. Und offenbar<br />
kann wie<strong>der</strong>um nur das eigentliche Wahrsein das eigentlichste<br />
Sein des Seienden ausmachen, nicht eine beliebige Enthorgenheit<br />
von beliebigem Seienden.<br />
23 a.a.O., 1051 b 5 f.<br />
u) Die Entsprechung von Sein und Wahrsein<br />
(Entborgenheit). Zwei Grundarten des Seins und die ihnen<br />
entsprechenden Weisen des Wahrseins<br />
Welche Lösung gibt Aristoteles diesem Problem? Nach all dem<br />
Gesagten dürfen wir nicht meinen, dieser höchste Punkt <strong>der</strong><br />
Seinsproblematik <strong>der</strong> Antike zeige in seiner Behandlung einen<br />
an<strong>der</strong>en Charakter als die antike Problembehandlung überhaupt.<br />
Auch hier steht das Problem in <strong>der</strong> Helle des natürlichen<br />
alltäglichen Seinsverständnisses, ohne daß das Licht selbst<br />
gelichtet wäre. Ich kennzeichne die aristotelische Behandlung des<br />
Problems nur in den Hauptzügen. Eine vollständige Interpretation<br />
wäre viel zu weitläufig und müßte eine eindringliche<br />
Kenntnis <strong>der</strong> aristotelischen Metaphysik voraussetzen.<br />
Im Hinblick auf das Problem sei an ein Dreifaches erinnert.<br />
1. Das eigentliche Seiende ist das OV EVEQ"yd~. EVEQ"yElU ist das<br />
eigentliche Sein im Sinne des Sichhaltens in beständiger Anwesenheit.<br />
2. Wahrheit ist Entborgenheit von Seiendem und erst<br />
auf Grund und in Bezug auf diese Entborgenheit ist im abgeleiteten<br />
Sinne dasjenige wahr, d. h. Entborgenes aufnehmend<br />
und verwerfend, was das Seiende selbst erfaßt und bestimmt:<br />
aA'l1{}EUElV, das !jJuvm bzw. Xutu!jJuvm tO aA'l1{}E~. 3. Gerade weil die<br />
Wahrheit ihrem <strong>Wesen</strong> nach Entborgenheit des Seienden ist, regelt<br />
und bestimmt sich die jeweilige Art <strong>der</strong> Entborgenheit<br />
(Wahrheit) nach <strong>der</strong> Art des Seienden, d. h. nach dessen Sein.<br />
Diese Zuordnung und Entsprechung <strong>der</strong> jeweiligen Art <strong>der</strong> Entborgenheit<br />
zur jeweiligen Art des Seienden ist, wenn man das<br />
<strong>Wesen</strong> des antiken Wahrheitsbegriffes gefaßt hat und festhält,<br />
von vornherein klar und selbstverständlich. Umgekehrt, wenn<br />
in <strong>der</strong> Antike diese Entsprechung klar ausgesprochen ist, dann<br />
heißt das, es liegt von vornherein die Auffassung von Wahrheit<br />
als Wahrheit des Seienden (Entborgenheit) zugrunde. So ist es<br />
in <strong>der</strong> Tat. Aristoteles sagt am Schluß von »Metaphysik« u 1<br />
eindeutig und elementar: EXacrtOV oo~ EXEl TOU dvm, OllTW XUt Tii~<br />
aA'l1{}du~24, so wie jegliches zum Sein sich verhält, ebenso verhält<br />
24 a.a.O., a 1. 993 b 30 f.