Trainingshandbuch Recherche : Informationsbeschaffung
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<strong>Recherche</strong> als „Geodäsie“ des sozialen Raumes<br />
dem Ideal nach - stets bezogen auf eine bestimmte, sprich repäsentative Form<br />
politischer Öffentlichkeit. Diese inszeniert sich nach dem Prinzip des klassischen<br />
Schauspiels: zentralperspektivisch, konfrontativ, wahrheitsbewußt. Etwas wird<br />
vorgeführt, das dem Leben entnommen ist. Der Journalist als Autor strebt danach,<br />
eine „reinigende Wirkung“ zu erzeugen und das Publikum zu erregen. Es<br />
soll am Ende geläutert hinausgehen und in einer in neuem Konsens formulierten<br />
Öffentlichkeit agieren.<br />
Eine religiöse Variante dazu bildet die Kleinliteratur der christlichen Erwekkungsbewegungen<br />
und die jüdisch-eschatologische Sozialkritik und ihre Auseinandersetzung<br />
mit dem „Großstadtsumpf“ um die Wende zum 20. Jahrhundert.<br />
Von hier führen direkte Verbindungslinien zum neu entstehenden Beruf des<br />
Journalisten und seinen <strong>Recherche</strong>-Methoden (muckraking).<br />
Die informelle Öffentlichkeit spricht<br />
Auslandsjournalisten kennen das. In anderen geographischen und sozialen Kontexten<br />
funktioniert dieses Spiel der Öffentlichkeit nicht so recht. Die Legitimationsformel<br />
von der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ läuft ins Leere, wenn<br />
das Gegenüber im eigenen Interesse lieber eine Flasche Wodka kippt, als den<br />
wissbegierigen Journalisten über Interna der Grenztruppen meinetwegen in der<br />
zentralasiatischen Republik Tuwa aufzuklären. Nur die Virtuosen und Gaukler,<br />
das vergißt man gerne, gieren nach Kamera und Mikrofon. Der Rest hingegen<br />
sagt „lieber nix“, geschweige denn „die Wahrheit“.<br />
Selbst weite Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit bleiben stumm und<br />
unzugänglich. Gleichgültig ob man Fantasy-Laienspieler oder Neonazis, ob Hilfsvereine<br />
für mißbrauchte Mädchen, Start-up-Yuppies oder den Hochadel nimmt<br />
oder sogar manche NGOs (Non-Government-Organisations), sie bieten kein Gegenüber,<br />
an dem der Journalist sich reiben oder festbeißen könnte. Man läuft ins<br />
Leere, und viele Kollegen sehen dann nur noch Korruption und Geheimniskrämerei.<br />
Welche Wirklichkeit wird da im Medium abgebildet? Wer kommt wie zu<br />
welchen Ergebnissen? Und wie steht er für sie ein? Auch das Publikum ist<br />
kritischer geworden oder guckt lieber gleich ‘echte’ Fiction wie Tatort oder<br />
Lindenstraße. Dass aus einem Gebäck, der Oblate beim Abendmahl, der Leib<br />
Christi werden kann oder ein Fetzen Papier als Geld anerkannt und ihm ein<br />
Tauschwert zugeschrieben wird, schreibt der Medientheoretiker Jochen Hörisch,<br />
hängt von seiner Beglaubigung ab. Das gehe allen Medien so. Schaffen sie diesen<br />
Sprung nicht, geraten sie in eine Glaubwürdigkeitskrise und das Publikum beschleicht<br />
das Gefühl, im Hamsterrad herumgejagt zu werden. Es fragt sich, was<br />
das Reportierte mit der eigenen Lebenswirklichkeit eigentlich zu tun hat.<br />
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