Trainingshandbuch Recherche : Informationsbeschaffung
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<strong>Recherche</strong> als „Geodäsie“ des sozialen Raumes<br />
zen es mit der Straßenbahn, machen Notizen zu Gewohnheiten der Bewohner,<br />
zur Bevölkerungsstruktur, besuchen „Visitenkarten“ und Schmuddelecken, sammeln<br />
das achtlos Weggeworfene am Straßenrand, Flyer und Stadtteilzeitungen,<br />
notieren städtebauliche Eigenheiten, schrille Kontraste, untersuchen das Angebot<br />
an Läden oder beobachten wie sich die Leute bewegen. Der Raum ist ein<br />
riesiger Gedächtnisspeicher. Alles ist wichtig: die Notiz in der Stadtteilzeitung,<br />
die Erzählung einer Hausfrau im Blumenladen, eine Geste, ein Augen-Blick.<br />
Alles hebt man auf. Aus dem Fragment entsteht die memoire involontaire (M.<br />
Proust), ein Profil, eine unerwartet markante Physiognomie. Die zunächst angetroffene<br />
matte Oberfläche offenbart plötzlich Tiefe, schillernden Glanz und Eigenart<br />
und sie gibt uns genug Frage- und Gesprächsstoff („Sagen Sie mal, wieso<br />
ist das hier so und so“), um Kontakte aufzubauen.<br />
Als Ratgeber steht bei dieser Übung ein Kriminalist zur Verfügung, der von<br />
Rekonstruktionen aus dem Detail, von profiling und Indizienbeweisen etwas<br />
versteht.<br />
Zweite Schnittebene: Ethnologen des Alltags<br />
„Who are the players?“, fragen versierte amerikanische Kollegen, wenn sie ins<br />
Feld aufbrechen. In jedem Raum gibt es mächtige Spieler und frustrierte Verlierer,<br />
die die Regeln bestimmen oder unter Umständen viel zu erzählen haben. Sie<br />
sind wie Türöffner. Man muß die richtige Sprachebene treffen, sich angemessen<br />
verhalten und kleiden (im Zweifel gilt: „dress down!“) und herausfinden wie man<br />
ihr Vertrauen gewinnen kann. Es gibt Berufsgruppen, die sind für solche Grenzgänge<br />
wie geboren und quasi selbst schon ein Reportagethema oder eine Figur<br />
für ein Drehbuch. Wir nennen sie Ethnologen des Alltags und meinen Rettungssanitäter,<br />
Stromableser, Stadtplaner, Seelsorger, Zeitschriftenwerber, Postzusteller,<br />
Schornsteinfeger, Pflegedienste, Versicherungsvertreter, Location Scouts,<br />
Gefrierkostfahrer, Denkmalpfleger, Polizisten, Prüfer der Gebühreneinzugszentrale<br />
(GEZ), Prospektverteiler und ähnliche Berufsgruppen. Mit ihnen laufen die<br />
Kursteilnehmer einfach mit. Überrraschenderweise fragt kaum einmal jemand<br />
danach, wer der „Praktikant“ denn eigentlich sei, und es ist unproblematisch,<br />
wenn er seine Identität preisgibt.<br />
Diese Übung offenbart Lebensverhältnisse, Lebensstile und Problemlagen<br />
und gewährt Einblicke in die private Seite des Stadtteils. Andererseits sind die<br />
Ethnologen des Alltags selbst Lernobjekt. Sie vermitteln ein Gefühl dafür, was<br />
man braucht, um im Viertel eingelassen zu werden. Sie sind Grenzgänger par<br />
excellence. Hat man ihr Vertrauen gewonnen, sind sie gerne bereit, einen weiterzuvermitteln.<br />
Wer „im Ernstfall“ nicht auf die Wirkungsmacht des Mediums<br />
spekuliert und darauf hofft, dass Kameras, Notizblöcke und Mikrofone Türen<br />
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