4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
VORTRÄGE 18. DAVO-KONGRESS PAPERS DAVO CONGRESS 2011<br />
widerlegt, sie sind vielleicht auch Vorboten einer<br />
neuen multipolaren Weltordnung.<br />
Torsten Matzke (Tübingen): „Pro-Rich Growth“ –<br />
Wachstumspolitik für eine reiche Minderheit. Zu<br />
den sozioökonomischen Ursachen der ägyptischen<br />
Revolution<br />
Die Unzufriedenheit der ägyptischen Bevölkerung mit<br />
ihrer wirtschaftlichen Situation <strong>und</strong> die Kritik an Korruption<br />
<strong>und</strong> Misswirtschaft waren wesentliche Gründe,<br />
warum sich ab dem 25. Januar 2011 immer wieder<br />
H<strong>und</strong>erttausende auf dem Tahrir-Platz versammelten.<br />
Allerdings ergibt eine Best<strong>and</strong>saufnahme der ägyptischen<br />
Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialpolitik der vergangenen<br />
Jahre ein zwiespältiges Bild. Auf der einen Seite stehen<br />
massive Armut, Preissteigerungen <strong>und</strong> eine nach<br />
wie vor hohe Arbeitslosigkeit, auf der <strong>and</strong>eren ein<br />
verbessertes Investitionsklima, der Anstieg ausländischer<br />
Direktinvesti<strong>tionen</strong> <strong>und</strong> ansehnliche Wachstumsraten.<br />
Dieser Beitrag zeichnet die wirtschaftliche Entwicklung<br />
der letzten Jahre nach <strong>und</strong> identifiziert die entst<strong>and</strong>enen<br />
Verteilungskonflikte. Seit 2004 forcierte<br />
eine aufstrebende Koalition von politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />
Eliten eine Wachstumspolitik, die jedoch<br />
vornehmlich wenige, gut vernetzte Großunternehmer<br />
begünstigte. Die volkswirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Auswirkungen dieser Politik können als<br />
„Pro-Rich Growth“ charakterisiert werden.<br />
Es ist somit nicht das geringe Entwicklungsniveau<br />
an sich, das eine Teilerklärung für den Ausbruch der<br />
Proteste liefern kann, sondern die mangelnde Teilhabe<br />
der breiten ägyptischen Bevölkerung an den wirtschaftlichen<br />
Dynamiken der vergangenen Jahre, die<br />
<strong>and</strong>eren ein Leben in Luxus ermöglichten – verb<strong>und</strong>en<br />
mit dem Gefühl, aufgr<strong>und</strong> fehlender politischer<br />
Partizipationsmöglichkeiten nichts daran ändern zu<br />
können.<br />
Der Beitrag macht außerdem deutlich, dass die wirtschaftlichen<br />
<strong>und</strong> sozialen Probleme Ägyptens nicht<br />
durch einen Regimew<strong>and</strong>el allein gelöst werden können.<br />
Die Wirtschaftslage hat sich durch die Revolution<br />
zunächst verschlechtert. Ob die Chancen des politischen<br />
Umbruchs genutzt werden können, hängt entscheidend<br />
vom wirtschafts- <strong>und</strong> sozialpolitischen<br />
Programm der zukünftigen Regierung ab – dieses allerdings<br />
ist sowohl bei der derzeitigen Militärregierung<br />
als auch den möglichen zivilen Regierungsparteien<br />
nur vage erkennbar.<br />
Lars Gaiser (Alex<strong>and</strong>ria): Frustration über Hindernisse<br />
bei der Bewältigung des Alltagslebens als<br />
wesentliche Ursache für den Ägyptischen Frühling<br />
Am Beispiel mehrerer H<strong>and</strong>lungssitua<strong>tionen</strong>, wie<br />
„Schule besuchen“, „Arbeit suchen“, „Wohnraum<br />
mieten oder kaufen“, „heiraten“, „sich medizinisch<br />
versorgen“ <strong>und</strong> „sich mit Lebensmitteln eindecken“,<br />
wird aufgezeigt, mit welchen Nöten, Problemen <strong>und</strong><br />
Ungerechtigkeiten die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung<br />
im Alltagsleben zu kämpfen hat. Der dabei<br />
angestaute Frust war eine wesentliche Ursache für die<br />
Massendemonstra<strong>tionen</strong> im Januar <strong>und</strong> Februar.<br />
In Bezug auf die Bildungsthematik werden die<br />
H<strong>and</strong>lungswege „Schulabsentismus“, „Einschulung in<br />
staatliche, azharitische oder private Lehranstalten“ ein<strong>and</strong>er<br />
gegenübergestellt. Dabei wird aufgezeigt, welcher<br />
Zusammenhang zwischen Schulabsentismus,<br />
Armut <strong>und</strong> Kinderarbeit besteht, welche eklatanten<br />
Defizite das staatliche Bildungssystem aufweist (überfüllte<br />
Klassen, mangelhafte Ausstattung der Schulgebäude,<br />
demotivierte, unterbezahlte Lehrer, veraltete<br />
Lehrmethodik...), welche Möglichkeiten hingegen die<br />
Schüler der Eliteschulen haben, welche unverhältnismäßig<br />
große Summen in Nachhilfe investiert wird.<br />
Der Weg zur Hochzeit ist etlichen ägyptischen Jugendlichen<br />
durch Hürden verbaut, die sie erst im Laufe<br />
mehrerer frustrierender Jahre nach <strong>und</strong> nach nehmen<br />
können. So wird im urbanen Raum vom Bräutigam<br />
erwartet, dass er eine eigene Wohnung stellt. Die<br />
Braut muss einen großen Teil der Ausstattung beisteuern.<br />
Die Kosten für die Festlichkeiten übersteigen<br />
oft das Jahreseinkommen des Paares. Frauen um 30<br />
Jahre erleiden Torschlusspanik. Arrangierte Ehen verbauen<br />
so manches wahre Liebesglück ...<br />
Der Autor stützt sich in seinen Ausführungen auf<br />
Daten, die aus seiner gerade veröffentlichen Dissertation<br />
(Leben <strong>und</strong> H<strong>and</strong>eln im Alltag von Kairo. Sozialwissenschaftliche<br />
Analysen einer Gesellschaft im<br />
Umbruch) stammen. Sie wurden 2005-2008 im Laufe<br />
einer Feldstudie in der Innenstadt von Kairo zusammengetragen<br />
<strong>und</strong> während eines weiteren Studienaufenthalts<br />
im Frühjahr <strong>und</strong> Sommer 2011 um Informa<strong>tionen</strong><br />
über die nun veränderten Verhältnisse ergänzt.<br />
Carola Richter (Berlin): Internet-Revolu<strong>tionen</strong>?<br />
Liberalisierungsprozesse in arabischen Mediensystemen<br />
<strong>und</strong> ihre Bedeutung für politischen W<strong>and</strong>el<br />
Der Mythos der „Internet-Revolu<strong>tionen</strong>“ prägt bisher<br />
das Bild der Umbrüche in der arabischen Welt 2011.<br />
Ohne Zweifel spielten Internet-basierte Medien eine<br />
wichtige Rolle in den Transformationsprozessen, allerdings<br />
in den einzelnen Ländern in stark unterschiedlichem<br />
Maße.<br />
Deshalb versucht der Vortrag, diese Rolle vor dem<br />
Hintergr<strong>und</strong> von (Pseudo)Liberalisierungen in arabischen<br />
Mediensystemen <strong>und</strong> der ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />
Medienpolitik zu beschreiben <strong>und</strong> kritisch zu<br />
bewerten. Es wird die These aufgestellt, dass nur<br />
durch Synergien aus Internetaktivismus <strong>und</strong> zumindest<br />
teilliberalisierten Massenmedien nachhaltige Effekte<br />
für Mobilisierung <strong>und</strong> politische Wirkungen erzielt<br />
werden können. Als Fallbeispiele dienen hierbei<br />
Ägypten <strong>und</strong> Libyen.<br />
Die intensive staatliche Förderung des Ausbaus des<br />
Internets in Ägypten, die technokratisch orientierte<br />
Führungsschicht <strong>und</strong> eine gleichzeitige begrenzte<br />
Liberalisierung im R<strong>und</strong>funk <strong>und</strong> im Pressebereich<br />
hatten seit 2004 dazu geführt, dass sich vorher marginalisierte<br />
Akteursgruppen als Teilöffentlichkeiten<br />
herausbilden <strong>und</strong> cross-medial artikulieren konnten.<br />
Dies schuf wesentlich die Voraussetzungen für die<br />
Formierung einer breit aufgestellten, in die nationale<br />
<strong>und</strong> internationale Öffentlichkeit hineinwirkenden<br />
Protestbewegung.<br />
11