4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
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REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />
gründlichen Quellenarbeit einen wichtigen Beitrag zur<br />
orientk<strong>und</strong>lichen Gr<strong>und</strong>lagenforschung leistet – ein<br />
solcher Beitrag ist die Publikation Bayraktars.<br />
In ihrer Publikation beschreibt die Autorin die weitestgehend<br />
unbekannten Übergriffe auf jüdische Angehörige<br />
in der Türkei 1934, einem L<strong>and</strong>, das zu dieser<br />
Zeit als offen gegenüber Immigranten galt. Unter<br />
Verwendung einer Unzahl von teilweise noch zuvor<br />
kaum gesichteten Quellen, nicht nur türkischer, sondern<br />
auch ausländischer Quellen (Zeitungen, Noten<br />
<strong>und</strong> Notizen) <strong>und</strong> besonders des Untersuchungsberichts<br />
des damaligen Generalinspektors des Militärinspektorats<br />
Thrakien-Çanakkale Ibrahim Talis, kann<br />
die Autorin klar die Gründe für die pogromähnlichen<br />
Angriffe auf die jüdische Bevölkerung aufzeigen <strong>und</strong><br />
sie in den historischen Kontext dieser Zeit stellen: Die<br />
Mittelmacht Italien versuchte Anfang der 1930er Jahre<br />
ihre Machtposition auf dem Balkan aufzubauen <strong>und</strong><br />
bemühte sich um einen Schulterschluss mit Bulgarien.<br />
Deshalb <strong>und</strong> weil die internationale Gemeinschaft<br />
immer noch am internationalen Status der Dardanellen<br />
festhielt, begann die Türkei ihre Westgrenze zu<br />
militarisieren, was u.a. die Umsiedlung von Bevökerungsgruppen<br />
bedeutete.<br />
Diese Tatsache, dass durch den Bevölkerungsaustausch<br />
zehn Jahre zuvor das christliche Element nur<br />
noch sporadisch anzutreffen war, <strong>und</strong> letztlich die allgemeine<br />
antisemitische Stimmung im Europa der<br />
1930er Jahre, führten angeheizt durch ultranationale<br />
Agitatoren zu Überreak<strong>tionen</strong> gegen das jüdische<br />
Element, die nicht gewollt, aber auch – wie vor allem<br />
die türkischen Quellen verraten – nicht strikt unterb<strong>und</strong>en<br />
wurden. Wie Bayraktar es darstellt, befahl<br />
Ismet Inönü erst auf Einrede Großbritanniens die Gewaltakte<br />
einzustellen. Feinfühlig kann die Autorin<br />
aber vor allem an den Berichten Ibrahim Talis zeigen,<br />
dass diese Maßgabe nicht dem wahren Empfinden<br />
vieler Türken entsprach, indem er die Ereignisse herunterspielt<br />
<strong>und</strong> den Juden sogar die Schuld an den<br />
nicht zu vertuschenden Übergriffen zuweist.<br />
Somit sind die Pogrome in Thrakien 1934 einerseits<br />
ein weiteres Beispiel für die Stimmungslage im Europa<br />
der Nationalstaaten vor dem 2. Weltkrieg, <strong>and</strong>ererseits<br />
zeigt sich, dass die türkisch-israelischen Beziehungen,<br />
die auch momentan wieder im Blickpunkt der<br />
Nahostpolitik stehen, schon in die Zeiten vor der<br />
Gründung des Staates Israels zurückreichen. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, dass Bayraktar<br />
hier eine unbekannte Seite der türkischen Geschichte<br />
aufdeckt, ist die Publikation unbedingt lesenswert.<br />
Hermann K<strong>and</strong>ler, Mainz<br />
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Benn, Tansin, Gertrud Pfister, Haifa Jawad<br />
(Hrsg., 2011): Muslim Women <strong>and</strong> Sport. –<br />
Routledge: London, 278 p.<br />
Wenn man die öffentliche Debatte in Deutschl<strong>and</strong> um<br />
muslimische Frauen <strong>und</strong> Sport rezipiert, erscheint der<br />
Zusammenhang klar: Das Wohl <strong>und</strong> Wehe der physischen<br />
Selbstbestimmung gläubiger Musliminnen hänge<br />
von den Dogmen des Islam ab.<br />
Indes, so einfach ist es nicht. Ebenso mangelt es an<br />
Flexibilität seitens relevanter Sportinstitu<strong>tionen</strong> <strong>und</strong> -<br />
akteure, so die Haupterkenntnis des Sammelb<strong>and</strong>es<br />
„Muslim Women <strong>and</strong> Sport“, gleichgültig ob es sich<br />
dabei um liberale oder autoritäre, frauen-fre<strong>und</strong>liche<br />
oder patriarchalische Umgebungen oder um Gesellschaften<br />
mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung<br />
h<strong>and</strong>elt:<br />
Nicht allein religiöse H<strong>and</strong>lungsanweisungen sind<br />
es, die Frauen von der Teilhabe an sportlichen Aktivitäten<br />
abhalten. Gleichfalls hindern Sportartspezifische<br />
Kleiderregeln, erwachsen aus sportlichen<br />
Tradi<strong>tionen</strong> oder festgelegt von Verbänden <strong>und</strong><br />
Sponsoren, gläubige Musliminnen daran, Angebote<br />
im Freizeit- <strong>und</strong> Breitensport wahrzunehmen.<br />
Die Schaffung solcher Gelegenheitsstrukturen, die<br />
den Musliminnen die körperliche Betätigung vom<br />
Breiten- über den Freizeit- bis hin zum Leistungssport<br />
nach den von ihnen praktizierten religiösen Habits<br />
ermöglichen, ist die wichtigste H<strong>and</strong>lungsempfehlung<br />
dieser Publikation an Politik <strong>und</strong> Sportverbände.<br />
Die Beiträge des Sammelb<strong>and</strong>es, die allesamt von<br />
weiblichen Autoren beigesteuert wurden, zeichnen<br />
sich durch die Vielfalt der Länder- <strong>und</strong> Fallbeispiele<br />
aus, die von Dänemark über Syrien bis nach Südafrika<br />
reichen.<br />
Die Heterogenität der Autorinnen, der Themen <strong>und</strong><br />
der Länder ist gleichzeitig Stärke <strong>und</strong> Schwäche des<br />
B<strong>and</strong>es. In Ländern, in denen die wissenschaftliche<br />
Ausein<strong>and</strong>ersetzung mit dem Phänomen Sport erst am<br />
Entstehen ist, wurden Praktikerinnen aus Politik <strong>und</strong><br />
(Sport-)Verbänden um Beiträge gebeten. So übernimmt<br />
der Sammelb<strong>and</strong> mit Aufsätzen zur weiblichen<br />
Sportkultur beispielsweise im Oman, Bahrain oder in<br />
Iran eine Vorreiterrolle, <strong>und</strong> die ideelle Leistung der<br />
Autorinnen hierbei kann nicht überschätzt werden.<br />
Gleichzeitig sind es gerade diese Beiträge, die die<br />
Qualität des Sammelb<strong>and</strong>es schmälern, indem sie das<br />
gewählte Beitragsthema unsystematisch abh<strong>and</strong>eln<br />
<strong>und</strong> die allgemeine Sportkultur des jeweiligen kulturellen<br />
Kontextes unberücksichtigt lassen. Letzteres,<br />
nämlich die Verortung des Stellenwertes sportlicher<br />
Betätigung im kulturellen Kontext, wird in den wenigsten<br />
Beiträgen beh<strong>and</strong>elt, <strong>und</strong> wenn doch, dann lediglich<br />
als Marginalie.<br />
Aber gerade die Wichtigkeit des Kontextes <strong>und</strong> sein<br />
Einfluss auf die Konstruktion von Geschlecht, auf die<br />
Rolle der Religion sowie auf den kulturellen Habitus<br />
bezüglich sportlicher Betätigung betonen die Herausgeberinnen<br />
in ihrer Einleitung stark, sodass sich der<br />
Leser ob der Nichtpräsenz des Kontextes in den einzelnen<br />
Beiträgen die Frage nach der inhaltlichen Synthese<br />
stellen muss. Hier hätten die Herausgeberinnen<br />
eventuell durch eine engere redaktionelle Begleitung<br />
der Artikel entgegenwirken können.<br />
Allerdings hat die Publikation auch höchst bemerkenswerte<br />
Aufsätze zu bieten, die nicht nur Praktikern<br />
bei der Einschätzung der sie interessierenden Lage<br />
weiterhelfen, sondern die einen wertvollen Beitrag zur<br />
wissenschaftlichen Erkenntnis im Bereich Gender,<br />
Sport <strong>und</strong> Religion leisten.<br />
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