4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
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REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />
Hodaie, Nazli (2008): Der Orient in der deutschen<br />
Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. Fallstudien aus drei<br />
Jahrh<strong>und</strong>erten. – Peter Lang: Frankfurt (u. a.), 337<br />
S.<br />
Wer hatte nicht wie weil<strong>and</strong> Hugo von Hofmannsthal<br />
“dieses Buch in Händen, als wir Knaben waren”, die<br />
Geschichten von Tausend<strong>und</strong>eine Nacht, <strong>und</strong> ebenfalls<br />
die Romane von Karl May über seine angeblichen<br />
Abenteuer im Vorderen Orient <strong>und</strong> im Wilden<br />
Westen? Wer hat sich nicht begeistern lassen von dem<br />
romantischen, märchenhaften Orient, der weiter entfernt<br />
war als die Schauplätze der vertrauteren Märchen<br />
der Gebrüder Grimm? Und wer hat nicht gebangt<br />
mit den aufrechten Teutonen Kara Ben Nemsi<br />
<strong>und</strong> Old Shatterh<strong>and</strong>, die bei edlen <strong>und</strong> weniger edlen<br />
“Wilden” die Dinge zurechtrückten <strong>und</strong> westliche<br />
Überlegenheit über Orientalen <strong>und</strong> Indianer demonstrierten?<br />
Nun kommen schon seit einigen Jahrzehnten<br />
kulturhistorisch Beflissene daher, die uns aufklären<br />
wollen über die gar nicht so edlen Hintergründe dieser<br />
Zyklen <strong>und</strong> uns diese Werke ‘neu’ lesen lassen wollen<br />
– doch wer möchte schon aufgeklärt werden, es sei<br />
denn er/sie ist eben kulturhistorisch beflissen oder<br />
bemüht sich um ‘politische Korrektheit’ in ihrer heutzutage<br />
gängigen Form?<br />
Die in vielen Versionen verbreiteten, vielfach reizvoll<br />
illustrierten Übertragungen <strong>und</strong> Bearbeitungen<br />
der orientalischen Geschichtensammlung seien, so<br />
wird uns nun klar gemacht, letzten Endes allesamt<br />
Ausgeburten negativer westlicher Klischeevorstellungen<br />
von den Menschen in muslimisch geprägten Gefilden<br />
<strong>und</strong>, schlimmer noch, die Romane Karl Mays<br />
seien Ausdruck imperialistischer <strong>und</strong> kolonialistischer<br />
Überheblichkeit. Müssen wir uns nicht alle schuldig<br />
vorkommen, wenn wir, dem Knabenalter entwachsen,<br />
noch immer gelegentlich zu diesen Büchern greifen<br />
<strong>und</strong>, nun schlechten Gewissens, sich an ihnen ergötzen?<br />
Doch, was hilft’s, der Geist ist aus der Flasche,<br />
um ein im westlichen Sprachgebrauch geläufig gewordenes<br />
Bild aus Tausend<strong>und</strong>eine Nacht zu benutzen.<br />
Eine der jüngsten Aufklärerinnen ist die deutschiranische<br />
Literaturwissenschaftlerin Nazli Hodaie, die<br />
mit ihrer anregenden Studie von der Universität München<br />
promoviert worden <strong>und</strong> ebendort inzwischen angestellt<br />
ist. Dass Hodaie den Herangewachsenen ihr<br />
Lesevergnügen vergällen will, soll ihr nicht unterstellt<br />
werden – dass diese Leser künftig kritischere Blicke<br />
auf die liebgewonnenen Bücher richten, soll ihr Vergnügen<br />
nicht schmälern. Können wir ihr <strong>und</strong> ihren<br />
aufklärerischen KollegenInnen wirklich böse sein?<br />
Haben wir nicht längst gewusst oder zumindest dunkel<br />
geahnt, allerspätestens seit Edward Saids vor allem<br />
traditionelle Gemüter provozierendem Werk Orientalism<br />
(1979), das kürzlich in einer neuen deutschen<br />
Ausgabe erschienen ist, was hier gespielt wurde<br />
<strong>und</strong> noch immer gespielt wird?<br />
Man ist geneigt, den kritischen Beobachtungen <strong>und</strong><br />
Argumenten der Verfasserin zu beiden Zyklen im<br />
Großen <strong>und</strong> Ganzen zuzustimmen, auch wenn bei<br />
manchen Einzelheiten Bedenken aufkommen <strong>und</strong> Ergänzungen<br />
angebracht scheinen. Kaum widersprechen<br />
lässt sich ihrer einleitenden Beobachtung, Exotik <strong>und</strong><br />
Märchenhaftigkeit seien noch immer Best<strong>and</strong>teile des<br />
europäischen Orientbildes, die jedoch “überschattet”<br />
würden von einer wiederkehrenden Islamophobie, so<br />
dass sich das Feindbild Islam immer mehr verfestige.<br />
Einem friedlichen Mitein<strong>and</strong>er wird nur dann “Erfolg<br />
beschieden” sein, wenn die Selbst- <strong>und</strong> Fremdbilder<br />
in einen offenen Dialog eintreten – wer könnte dem<br />
widersprechen, bei aller Skepsis gegenüber dem viel<br />
beschworenen ‘interkonfessionellen Dialog’, der aus<br />
einem gegenseitigen Interesse anein<strong>and</strong>er zu erwachsen<br />
hätte? Den Europäern empfiehlt sie, sich von ihrer<br />
“eurozentrischen Einstellung” frei zu machen, die als<br />
Gr<strong>und</strong>lage für politische <strong>und</strong> ökonomische Unterdrückung<br />
diene, während sie von der “muslimischen Seite”<br />
die Anerkennung der “Universalien” wie Demokratie,<br />
Menschenrechte <strong>und</strong> Freiheit des Individuums<br />
anmahnt – ohne diese genauer zu definieren (S. 24f.).<br />
In diesen Argumentationsrahmen passt Hodaies<br />
Schilderung der westlichen Rezeption von Tausend<strong>und</strong>eine<br />
Nacht. All den westlichen Orient-Klischees<br />
wie Lüsternheit, Obszönität, Luxus, Exotik, Tyrannei,<br />
Despotie, Grausamkeit, “<strong>und</strong> das alles in einer islamisierten<br />
Atmosphäre”, sei dieses Werk zu Beginn des<br />
18. Jahrh<strong>und</strong>erts “entgegengekommen”, das überdies<br />
die bisherige Orient-Rezeption um eine märchenhafte<br />
Komponente bereichert habe. Außerdem sei durch<br />
diese Rezeption vor allem im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert der erotische<br />
Aspekt des europäischen Orientbildes “stark<br />
hervorgehoben” worden. Diese Beobachtung wird illustriert<br />
durch die Wiedergabe einiger Beispiele französischer<br />
Orient-Malerei, denen sich Illustra<strong>tionen</strong><br />
von Tausend<strong>und</strong>eine Nacht bis in unsere Tage hinzufügen<br />
ließen. Diese Orient-Malerei habe zur Verbreitung<br />
der Vorstellung von der passiven, unterdrückten,<br />
zum Lustobjekt degradierten <strong>und</strong> dabei erotischen<br />
Orientalin erheblich beigetragen (S. 27-30).<br />
Das Bild eines märchenhaften Orients mit seinen<br />
fliegenden Teppichen <strong>und</strong> W<strong>und</strong>erlampen sei, so hat<br />
Hodaie beobachtet, längst zu einem alltäglichen Orientbild<br />
geworden, von dem vor allem der Tourismus<br />
profitiere. Hodaie irrt jedoch, erfreulicherweise, wenn<br />
sie behauptet, Tausend<strong>und</strong>eine Nacht werde heute fast<br />
ausschließlich als Kinderlektüre wahrgenommen (S.<br />
50). Sind ihr die nicht wenigen Ausgaben mit teilweise<br />
künstlerisch anspruchsvollen Illustra<strong>tionen</strong>, deren<br />
Titel kaum alle zu erfassen sind, entgangen? Die orientalischen<br />
Geschichten erfreuen sich gleichermaßen<br />
anhaltenden wissenschaftlichen Interesses. The Arabian<br />
Nights Encyclopedia herausgegeben von Ulrich<br />
Marzolph <strong>und</strong> Richard van Leeuwen (2004) steht<br />
nicht allein. Im selben Jahr hatte Claudia Ott eine<br />
Übersetzung besorgt, deren arabische Vorlage, eine<br />
H<strong>and</strong>schrift aus dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert, nur bis zur 282.<br />
Nacht reicht; <strong>und</strong> 2008 hat der Arabist Malcolm C.<br />
Lyons eine umfassende Übersetzung ins Englische<br />
vorgelegt, die erste, die diese Bezeichnung voll verdient.<br />
Hodaies Beobachtung, alles “orientalisch Anmutende<br />
<strong>und</strong> dabei Geheimnisvolle, Exotische, Zauberhafte,<br />
Erotische, Prachtvolle, Sinnliche” werde “reflexartig”<br />
mit dem Zusatz “wie aus Tausend<strong>und</strong>einer Nacht” be-<br />
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