4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />
satzung zu zermalmen (crush) <strong>und</strong> den palästinensischen<br />
Kampf für Unabhängigkeit <strong>und</strong> Staatlichkeit zu<br />
unterdrücken: ein unverhüllter Versuch Israels, den<br />
Palästinensern seine eigenen Bedingungen aufzuzwingen<br />
ohne die geringste Rücksicht auf ihre demokratischen<br />
Verfahren oder ihre rechtmäßigen Ansprüche.<br />
Als einen der beklagenswertesten Aspekte dieses<br />
Krieges nennt er die willkürliche (indiscriminate)<br />
Bombardierung durch die israelische Armee, die sich<br />
selbst “Verteidigungsstreitmacht” nenne, die zügellose<br />
Brutalität gegenüber Zivilisten <strong>und</strong> die Angriffe auf<br />
Schulen <strong>und</strong> Lebensmitteldepots der Vereinten Na<strong>tionen</strong>.<br />
Für Shlaim hat der verwerfliche Angriff (vicious<br />
assault) auf die Bevölkerung von Gaza jeglichen Anspruch<br />
Israels auf moralische Überlegenheit unwiderruflich<br />
erschüttert.<br />
Der Tod <strong>und</strong> die Zerstörung, die Israel der unschuldigen<br />
Bevölkerung Gazas zugefügt habe, führt auch<br />
Shlaim zu der Frage, wie ein Volk, das Opfer unbeschreiblicher<br />
Gefühllosigkeit geworden sei, zum<br />
grausamen Folterer eines <strong>and</strong>eren Volkes werden<br />
könne? Eine schmerzhafte Frage, auf die er keine befriedigende<br />
Antwort habe, so bekennt er. Gleichwohl<br />
lehnt er es ab, die Hoffnung aufzugeben, auch wenn<br />
derzeit Israelis <strong>und</strong> Palästinenser in einem schrecklichen<br />
Totentanz eingesperrt seien. Auf längere Sicht,<br />
so meint Shlaim, mögen die Israelis den Irrtum ihres<br />
Kurses einsehen. Der Historiker tröstet sich mit der<br />
historischen Einsicht, dass Na<strong>tionen</strong> ebenso wie Individuen<br />
vernünftig h<strong>and</strong>eln können – wenn alle <strong>and</strong>eren<br />
Möglichkeiten ausgeschöpft sind (S. XIVf.). Nach<br />
der Lektüre dieses B<strong>and</strong>es fällt es freilich nicht leicht,<br />
sich diesem Optimismus anzuschließen.<br />
Um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass Israel<br />
ein Schurkenstaat ohne Anspruch auf moralische<br />
Überlegenheit ist, hat Shlaim offenbar viele Jahre benötigt.<br />
Hatte er doch in seiner Bewertung der Balfour-<br />
Erklärung von 1917, die zur Gr<strong>und</strong>lage für die Gründung<br />
des Staates Israel werden sollte, dem britischen<br />
Hochkommissar in Palästina, John Chancellor, zugestimmt,<br />
der schon kurz nach seiner Amtsübernahme<br />
im Dezember 1928 die Erklärung einen gewaltigen<br />
Missgriff genannt hatte, unfair gegenüber den Arabern<br />
<strong>und</strong> den Interessen des Britischen Reiches abträglich.<br />
Chancellor habe Britannien von der Erklärung<br />
freimachen (extricate) <strong>und</strong> dem Zionismus einen<br />
Schlag versetzen wollen (to deal a blow to Zionism).<br />
In einem Memor<strong>and</strong>um von 1933 beschrieb er die Politik,<br />
die nationale Heimstätte für die Juden in Palästina<br />
zu unterstützen, als irregeleitet, ungerecht <strong>und</strong> unmöglich<br />
auszuführen. Die Juden bezeichnete er als<br />
emotionale Leute: Mit ihnen umzugehen, sei schwierig,<br />
da sie rücksichtslos gegenüber den Rechten <strong>und</strong><br />
Empfindungen <strong>and</strong>erer seien, ihre eigenen Ansprüche<br />
jedoch energisch verfolgten. “Selbst als eine Minderheit<br />
der Bevölkerung Palästinas nehmen die Juden<br />
gegenüber den Arabern eine Haltung arroganter<br />
Überheblichkeit ein, die ihnen von den Arabern mit<br />
ihren Tradi<strong>tionen</strong> an Höflichkeit <strong>und</strong> guten Manieren<br />
sehr verübelt wird.” (S. 17).<br />
Der höchstrangige britische Offizier im Nahen Osten,<br />
Feldmarschall Henry Wilson, hatte schon in den<br />
frühen 20er Jahren bemerkt, Palästina sei kein strategischer<br />
Posten (strategic asset), <strong>und</strong> wiederholt erklärt,<br />
die Briten hätten in Palästina nichts verloren (no<br />
business), <strong>und</strong> je schneller sie das L<strong>and</strong> verließen,<br />
desto besser. Er verglich die Probleme Palästinas mit<br />
denen Irl<strong>and</strong>s: zwei Völker in einem kleinen L<strong>and</strong>, die<br />
sich hassen “wie die Hölle” – Beobachtungen, die an<br />
Aktualität kaum verloren haben. Wiederholt verlangte<br />
er, Palästina, das er Judenl<strong>and</strong> (Jewl<strong>and</strong>) nannte, solle<br />
aufgegeben werden. Diese Logik sei nach der Unabhängigkeit<br />
Indiens unwiderstehlich geworden,<br />
schreibt Shlaim: Wenn Indien der “Juwel in der Krone”<br />
des Britischen Reiches war, so war Palästina<br />
kaum mehr als ein Windröschen im Knopfloch am<br />
Rock des Königs (S. 20).<br />
Als das M<strong>and</strong>at Palestine sich seinem “unrühmlichen<br />
Ende” näherte, fühlten sich beide Seiten von den<br />
Briten im Stich gelassen <strong>und</strong> warfen ihnen Doppelzüngigkeit<br />
<strong>und</strong> Verrat vor, schreibt Shlaim. Die Art<br />
<strong>und</strong> Weise, wie das M<strong>and</strong>at endete, war der<br />
schlimmste Makel in der Geschichte Britanniens als<br />
vom Völkerb<strong>und</strong> eingesetzte M<strong>and</strong>atsmacht. “Britannien<br />
verließ Palästina ohne ordentliche Übertragung<br />
der Macht auf eine legitime Regierung.” Die Auswirkungen<br />
der Balfour-Erklärung blieben nicht beschränkt<br />
auf Palästina, Zorn auf Britannien habe alle<br />
Schichten der Gesellschaft in der arabischen Welt erfasst,<br />
von den intellektuellen Eliten bis zu den Massen<br />
(S. 21). Shlaim nennt die Balfour-Erklärung die Erbsünde,<br />
ein Widerspruch in sich selbst: Die nationale<br />
Heimstätte, die sie den Juden versprochen habe, sei<br />
niemals klar definiert worden, einen Präzedenzfall im<br />
Völkerrecht gebe es nicht. 90 Prozent der Bevölkerung<br />
als die nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina<br />
zu bezeichnen, nennt er arrogant, abschätzig,<br />
wenn nicht rassistisch; die “schlimmste Form imperialer<br />
Heuchelei”, die besage, dass es ein Gesetz für<br />
die Juden gebe <strong>und</strong> ein <strong>and</strong>eres für alle <strong>and</strong>eren: mit<br />
einem “düsteren Anfang” <strong>und</strong> mit einzigartig schlimmer<br />
Vorbedeutung war die britische Herrschaft in Palästina<br />
vorherbestimmt zu scheitern “wie in einer<br />
griechischen Tragödie”. Doch es war nicht nur ein politisches<br />
Versagen, sondern auch ein ungeheures (egregious)<br />
moralisches. “Britannien hatte keine moralische<br />
Berechtigung, einer winzigen jüdischen Minderheit<br />
in einem vorwiegend arabischen L<strong>and</strong> eine nationale<br />
Heimstätte zu versprechen. Es tat dies nicht aus<br />
selbstlosen, sondern aus eigennützigen <strong>und</strong> falsch geleiteten<br />
Gründen” (S. 23).<br />
Shlaim wehrt sich in der Einleitung gegen die offenbar<br />
gerade nach seinem Beitrag über die Balfour-<br />
Erklärung – erstveröffentlicht 2005 in einem Sammelb<strong>and</strong><br />
seines Oxford-Kollegen William Roger<br />
Lewis – lautgewordene Kritik. Er glaube, die Gründung<br />
des Staates Israel habe eine schreckliche Ungerechtigkeit<br />
für die Palästinenser mit sich gebracht (involved),<br />
er akzeptiere jedoch völlig die Rechtmäßigkeit<br />
des Staates Israel in den Grenzen von 1967. Seinen<br />
Kritikern, die behaupteten, beide St<strong>and</strong>punkte<br />
stünden im Widerspruch zuein<strong>and</strong>er, ein Staat gegründet<br />
auf Unrecht könne nicht rechtmäßig (legitimate)<br />
sein, gesteht er zu, die Palästinenser hätten Ent-<br />
207