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4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations

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DISSERTATIONEN DISSERTATIONS<br />

bilden. Für die Türkei wird ihre Anzahl auf ca. eine<br />

Million geschätzt; hinzukommen über h<strong>und</strong>erttausend<br />

Migranten, von den um die 70.000 in Deutschl<strong>and</strong><br />

leben. Letztere bilden den eigentlichen Fokus der in<br />

der Dissertation durchgeführten ethnologischen <strong>und</strong><br />

religionswissenschaftlichen Analyse.<br />

Die empirischen Daten gehen auf eine dreijährige<br />

Forschung unter alawitischen Migranten in Deutschl<strong>and</strong><br />

<strong>und</strong> auf einen 18 Monate umfassenden Feldforschungsaufenthalt<br />

in der Hatay-, Mersin- <strong>und</strong> Çukorova-Region<br />

in der Türkei zurück. Auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

von langjährigen Kontakten <strong>und</strong> der daraus resultierenden<br />

Einbindung in soziale Netzwerke wurde der<br />

Verfasserin sowohl in Deutschl<strong>and</strong> als auch in der<br />

Türkei Zugang zu den zentralen religiösen Ritualen<br />

gewährt, die auf diese Weise erstmals in ihrer Komplexität<br />

dokumentiert werden konnten, darunter die<br />

Lebenszyklusrituale (Geburt, Initiation, Heirat, Bestattung)<br />

sowie Heilungs-, Reinigungs- <strong>und</strong> Opferrituale.<br />

Im Vordergr<strong>und</strong> der Untersuchung st<strong>and</strong> auch das<br />

für Außenstehende zunächst rätselhaft anmutende<br />

Phänomen der Wiedergeburt, für das die Alawiten<br />

bekannt sind <strong>und</strong> worüber in den öffentlichen Medien<br />

der Türkei bis heute berichtet wird. In der Arbeit wird<br />

nicht nur eine Vielzahl von Fallbeispielen hinsichtlich<br />

der Wiedergeburt dokumentiert, sondern zugleich<br />

auch verdeutlicht, welcher Stellenwert dem betreffenden<br />

Phänomen <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen religiösen<br />

Diskursen im Gesamtzusammenhang der alawitischen<br />

Kosmologie zukommt.<br />

Neben der Wiedergeburtslehre sind auch die damit<br />

korrespondierenden Vorstellungen zur Seelenw<strong>and</strong>erung<br />

von essentieller Bedeutung. Auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

ihres Ursprungsmythos sehen sich die Alawiten als<br />

Verkörperungen von „Lichtseelen“, die ursprünglich<br />

beim Schöpfer waren, aufgr<strong>und</strong> ihrer Überheblichkeit<br />

jedoch aus dem Paradies auf die irdische Welt hinabgestoßen<br />

wurden, wo sie fortan einen Zyklus der Wiedergeburt<br />

zu durchlaufen haben, um wieder zu Gott zu<br />

gelangen. Auch wenn das Konzept der Seelenw<strong>and</strong>erung<br />

in den religiösen Texten aufscheint, so stellt es<br />

sich in der gelebten Praxis jedoch weitaus komplexer<br />

dar, indem die Alawiten von der gleichzeitigen Präsenz<br />

mehrer „Seelen“ bzw. spiritueller Komponenten<br />

im Körper der Person ausgehen, die unterschiedlichen<br />

Schicksalen unterworfen sind. In diesem Zusammenhang<br />

spielt auch das aus der islamischen Welt bekannte<br />

Konzept nafs eine entscheidende Rolle, dem die<br />

Alawiten jedoch eine gänzliche eigenständige kulturspezifische<br />

Bedeutung beimessen.<br />

Darüber hinaus werden in der Arbeit auch <strong>and</strong>ere<br />

religiöse Kategorien diskutiert, die nicht zuletzt auch<br />

den synkretistischen bzw. gnostisch-sufistischen Charakter<br />

der religiösen Lehre der Alawiten widerspiegeln,<br />

wie das batin <strong>und</strong> zahir, die Differenzierung<br />

zwischen „Eingeweihten“ <strong>und</strong> „Nichteingeweihten“,<br />

die Trinitätslehre (ma‘na, ism <strong>und</strong> bab), die kosmologischen<br />

Rangordnungen, aber auch die Unterteilung<br />

der religiösen Gemeinschaft in die beiden mitein<strong>and</strong>er<br />

kontrastierenden Strömungen der Haidri <strong>und</strong> Klezi.<br />

Schließlich wird auch die Funktion der ziyara – der<br />

religiösen Pilgerorte – einer genauen Analyse unterzogen.<br />

Auch war eine differenzierte Betrachtung der<br />

Gender-Ordnung <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen religiösen<br />

Pflichten bzw. Tabus geboten, zumal der alawitischen<br />

Religion im Lauf der Forschungsgeschichte<br />

nicht selten ein „gynophober“ Zug nachgesagt wurde.<br />

All diese Aspekte werden nicht nur hinsichtlich ihrer<br />

Relevanz für die gelebte Praxis, sondern auch mit<br />

Bezug auf ihre Variation vor dem Hintergr<strong>und</strong> unterschiedlich<br />

verorteter religiöser Perspektiven diskutiert.<br />

So zeigen sich vielfach Divergenzen zwischen<br />

den Perspektiven der religiösen Laien <strong>und</strong> der Scheiche,<br />

die in ihren Nuancen herausgearbeitet werden.<br />

Ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Arbeit<br />

best<strong>and</strong> nicht zuletzt auch darin, das oftmals statisch<br />

erscheinende Bild der alawitischen Glaubensvorstellungen<br />

<strong>und</strong> religiösen Praktiken – wie es im Laufe der<br />

Forschungsgeschichte auf der Gr<strong>und</strong>lage der alleinigen<br />

Exegese von religiösen Texten gezeichnet wurde<br />

– aufzubrechen <strong>und</strong> vielmehr die Dynamik <strong>und</strong> den<br />

W<strong>and</strong>el der alawitischen Religion in der globalisierten<br />

Welt in den Blick zu nehmen. Sowohl durch die modernen<br />

nationalstaatlichen Entwicklungen in der Türkei<br />

als auch durch die alawitischen Migranten selbst<br />

sind eine Vielzahl von komplexen transnationalen<br />

Verflechtungen <strong>und</strong> Rückkopplungsprozessen entst<strong>and</strong>en,<br />

die gleichermaßen auf den Migrationskontext<br />

wie auch auf die alawitischen Ursprungsregionen<br />

zurückwirken.<br />

So werden in der Dissertation neben dem W<strong>and</strong>el<br />

der religiösen Vorstellungen <strong>und</strong> Rituale auch die sich<br />

verändernden alawitischen Konzepte über das Ordnungsgefüge<br />

sozialer Beziehungen untersucht, die im<br />

kulturspezifischen Idiom vor allem im Rahmen von<br />

verw<strong>and</strong>tschaftlichen Rela<strong>tionen</strong> zum Ausdruck gebracht<br />

werden. Darunter fallen u.a. die Heiratspartnerwahl,<br />

das Gebot der „religiösen Endogamie“,<br />

die Inzesttabus <strong>und</strong> Verw<strong>and</strong>tschaftsterminologien<br />

sowie die Deszendenzregeln, aber auch Vorstellungen<br />

über die Notwendigkeit der transgenerationalen<br />

Transmission von körperlichen bzw. spirituell konnotierten<br />

Substanzen (Sperma, „männliches“ <strong>und</strong> „weibliches<br />

Blut“, „Schicksalsmilch“ u.a.), die den Körper<br />

<strong>und</strong> die Identität der Person sowie das weitere verw<strong>and</strong>tschaftliche<br />

Netzwerk konstituieren. In diesem<br />

Zusammenhang wird aufgezeigt wie moderne biomedizinische<br />

Kategorien wie „Gene“ <strong>und</strong> „Hormone“<br />

von den Alawiten in ihre sozial-religiösen Diskurse<br />

integriert werden, dabei aber auch f<strong>und</strong>amentale Veränderungen<br />

nicht nur im Bereich der Heiratspartnerwahl<br />

<strong>und</strong> der Deszendenz nach sich ziehen, sondern<br />

gerade auch die Art <strong>und</strong> Weise berühren, wie die<br />

Alawiten die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft<br />

konzeptualisieren.<br />

Angesichts der öffentlichen Diskussionen um das<br />

Problem der Integration, der „Importbräute“ <strong>und</strong> des<br />

Schreckgespenstes der sich abschottenden Parallelgesellschaften<br />

wird in der Dissertation zudem eine kritische<br />

Ausein<strong>and</strong>ersetzung mit gängigen Thesen aus der<br />

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