4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
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REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />
scheitert (doomed) bezeichneten. Oliver Miles, ehemaliger<br />
Botschafter in Libyen, der das Schreiben<br />
entworfen hatte <strong>und</strong> in der britischen Presse regelmäßig<br />
die britische Nahostpolitik kommentiert, fragte in<br />
einem Kommentar zur Chilcot-Untersuchungskommission,<br />
ob die Militäraktion gegen den Irak ein Aggressionskrieg<br />
<strong>und</strong> folglich ein Kriegsverbrechen gewesen<br />
sei (The Independent, 22.11.2009).<br />
Blair ein Kriegsverbrecher? Einer solchen Frage<br />
will Hollis offenbar lieber nicht nachgehen. Unerwähnt<br />
bleiben auch die Pläne von Kriegsgegnern, gegen<br />
Blair gerichtlich vorzugehen. Ebenfalls die Untersuchungen<br />
von Foltervorwürfen gegen britische Soldaten<br />
im Irak, unter denen die Meinung verbreitet<br />
war, alle Iraker seien Abschaum (scum), wie ein britischer<br />
Offizier im April 2010 vor einem offiziellen<br />
Untersuchungsausschuss aussagte (The Guardian,<br />
28.4.2010). Berichte über geheim gehaltene Folterungen<br />
von Irakern durch den militärischen Geheimdienst<br />
sind Hollis offenbar ebenso wenig vor Augen<br />
gekommen (The Independent, 21.3.2010).<br />
Verständlicherweise machte sich unter den “Arabisten”<br />
Frustration <strong>und</strong> Verärgerung breit, da sie übergangen<br />
wurden <strong>und</strong> der Forschungsabteilung des Ministeriums<br />
in den 90er Jahren sogar die Mittel gekürzt<br />
wurden. War das Außenministerium für die längste<br />
Zeit des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts die Zentralstelle zur Formulierung<br />
der britischen Nahostpolitik gewesen <strong>und</strong> die<br />
dortigen “Arabisten” das stärkste Kontingent an Regionalspezialisten,<br />
so verloren sie mit der Konzentration<br />
der politischen Entscheidungsgewalt im Amt des<br />
Premierministers an Einfluss. Hollis widmet ihnen einen<br />
Abschnitt unter der Überschrift “Ende einer Ära”<br />
(S. 63f.). Sie berichtet von der vor allem in Israel<br />
herrschenden Vorstellung, das Außenministerium sei<br />
proarabisch orientiert, <strong>und</strong> fügt hinzu, Blair habe besondere<br />
Anstrengungen unternommen, diesen “Eindruck”<br />
ein für allemal zu zerstreuen. Unerwähnt lässt<br />
sie die Irak-Spezialisten, die gemeinsam mit einigen<br />
<strong>and</strong>eren im November 2002 zu einem Gespräch beim<br />
Premierminister eingeladen wurden, den verhängnisvollen<br />
Lauf der Dinge jedoch auch nicht aufhalten<br />
konnten – war die Entscheidung, sich am Krieg der<br />
Amerikaner zu beteiligen, doch längst gefallen.<br />
Als einen politischen Wendepunkt für Blair beschreibt<br />
Hollis seine Haltung im israelischen Libanon-Krieg<br />
vom Juli 2006, als er in Übereinstimmung<br />
mit Washington Israel gleichsam (effectively) grünes<br />
Licht für sein Vorgehen gab, das auf die Zerschlagung<br />
der Hizbullah gerichtet war, jedoch mehr als tausend<br />
tote Zivilisten <strong>und</strong> viele Verw<strong>und</strong>ete forderte, ohne<br />
das – auch im amerikanischen Interesse liegende –<br />
Kriegsziel zu erreichen. Die Verfasserin zitiert einen<br />
palästinensischen Intellektuellen zum Libanon-Krieg:<br />
“Der verrückte, blinde <strong>und</strong> dumme israelische Militär-<br />
Elefant verbindet sich mit dem Esel [Bush] in<br />
Washington <strong>und</strong> dem Affen [Blair] in London – die<br />
Leute sind sehr, sehr zornig.” Zur selben Zeit geriet<br />
Blair in eine “einzigartige Verlegenheit” (singular<br />
embarrass-ment), als bei der G8-Gipfelkonferenz ein<br />
Gespräch Bush-Blair beim Frühstück infolge eines<br />
nicht ausgeschalteten Mikrofons bekannt wurde. Die<br />
Art <strong>und</strong> Weise, wie Bush mit Blair umging, mit vollem<br />
M<strong>und</strong> mit ihm sprach, ohne ihn anzusehen, kam<br />
für Hollis einer Demütigung nahe. Blair schien Bush<br />
zu fragen, ob er eine Reise in den Nahen Osten unternehmen<br />
dürfe, die Erlaubnis wurde ihm verweigert –<br />
“ein weiterer Schlag für sein Ansehen” (S. 152f.).<br />
Blair erlitt einen weiteren Rückschlag sowohl in<br />
seinem Verhältnis zu Bush wie im Nahen Osten, als<br />
er nach seinem Rücktritt vom Amt des Premierministers<br />
Ende Juni 2001 zum Nahostbeauftragten des<br />
“Quartetts” (Vereinigte Staaten, Vereinte Na<strong>tionen</strong>,<br />
Europäische Union, Russl<strong>and</strong>) ernannt wurde. Bush<br />
behielt die politische Hauptrolle im Friedensprozess<br />
für sich <strong>und</strong> seine Außenministerin Condoleezza Rice<br />
vor. Blair sei zweifellos enttäuscht gewesen, schreibt<br />
Hollis, hatte er doch gehofft, etwas von seiner Magie<br />
einzubringen, die seinen Friedensbemühungen in<br />
Nordirl<strong>and</strong> zum Erfolg verholfen hatte. Statt dessen<br />
sah er sich “festgefahren” (bogged down) in den Einzelheiten<br />
(minutiae) von Straßensperren, Abwasserbeseitigung,<br />
Straßen der israelischen Siedler, illegale<br />
Außenposten der Siedler, Reiseerlaubnisse <strong>und</strong> Ausweispapiere.<br />
Im Nahen Osten war Blairs Ansehen befleckt durch<br />
seine Beteiligung an Bushs Irak-Krieg <strong>und</strong> seine<br />
“H<strong>and</strong>habung” von Israels Libanon-Krieg. Viele arabische<br />
Kreise deuteten seine Ernennung zum Nahostbeauftragten<br />
als ein Plan, die Palästinenser zur Annahme<br />
einer Vereinbarung (deal) zu bringen, die israelische<br />
<strong>und</strong> amerikanischen Erfordernissen (needs)<br />
Vorrang gab. Blair sah, so wurde vermutet, in seiner<br />
Ernennung eine Gelegenheit, “Mäßigung” gegen<br />
“Extremismus” zu fördern <strong>und</strong> seine politische Hinterlassenschaft<br />
in einen “rechten Rahmen zu bringen”<br />
(reframe). Traurigerweise für Blair, so resümiert, Hollis,<br />
war seine Rolle zu beschränkt, um ihm diese<br />
Chance zu gewähren. Wenn selbst ein Bill Clinton bei<br />
aller Macht der amerikanischen Präsidentschaft <strong>und</strong><br />
seinem persönlichen Charisma <strong>und</strong> seiner Entschlossenheit<br />
den Nahostkonflikt nicht zu regeln vermochte,<br />
wie könnte dann Blair als ehemaliger Premierminister,<br />
so überlegt sich Hollis, dies fertigbringen? (S.<br />
156f.). Unter diesen Umständen erwies sich die nicht<br />
nur in Kreisen der Rechten gepflegte Vorstellung von<br />
den “besonderen Beziehungen” zu Amerika als ein<br />
Gegengewicht zu den ungeliebten Europäern (von denen<br />
die meisten Briten als Nachkommen von Einw<strong>and</strong>erern<br />
abstammen) als eine auf dieser Seite des Atlantiks<br />
gehegte Illusion.<br />
Im Mai 2005 hatte Blair seine dritte Wahl gewonnen,<br />
wenn auch mit stark reduzierter Parlamentsmehrheit<br />
seiner Partei. Die Entscheidung, das L<strong>and</strong> in<br />
den Krieg im Irak zu führen, hatte die Wähler nicht<br />
gegen Neu-Labour aufgebracht. Den Briten st<strong>and</strong> jedoch<br />
ein “rauhes Erwachen” (rude awakening), dessen<br />
Zusammenhang mit der britischen Nahostpolitik<br />
nicht zu bestreiten war: Am 7. Juli verübten vier islamistisch<br />
motivierte, im L<strong>and</strong>e geborene <strong>und</strong> aufgewachsene<br />
Selbstmordattentäter Bombenanschläge auf<br />
das Londoner Transportsystem, bei denen mehr als 50<br />
Menschen starben <strong>und</strong> viele verletzt wurden.<br />
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