4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />
schaftssystems, das aufgr<strong>und</strong> schwindender materieller<br />
Ressourcen spätestens seit dem Ende der 80er Jahre<br />
nicht nur die Fähigkeit verlor, die irakische Gesellschaft<br />
nach seinen Vorstellungen zu prägen, sondern<br />
sogar gezwungen war, gr<strong>und</strong>legende staatliche Aufgaben,<br />
wie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit,<br />
an nicht-staatliche Akteure abzutreten. Diese<br />
Erkenntnis deckt sich auch mit den Untersuchungen<br />
von Faleh Abdul-Jabar, Amatzia Baram <strong>und</strong> <strong>and</strong>eren<br />
Autoren, die bereits Anfang der 90er Jahre einen Prozess<br />
der „Retribalisierung“ konstatierten, der durch<br />
die Zerschlagung aller zivilgesellschaftlicher Institu<strong>tionen</strong>,<br />
die Kriege nach Außen <strong>und</strong> Innen <strong>und</strong> nicht<br />
zuletzt durch die Erosion der irakischen Mittelschicht<br />
im Zuge der wirtschaftlichen Sank<strong>tionen</strong> gefördert<br />
wurde.<br />
Im zweiten <strong>und</strong> umfangreicheren Teil seiner Veröffentlichung<br />
widmet sich Achim Rohde dem öffentlichen<br />
Diskurs des Regimes <strong>und</strong> seiner Interaktion mit<br />
der Gesellschaft in Bezug auf seine Geschlechterpolitik<br />
<strong>und</strong> seine Konzepte von Maskulinität <strong>und</strong> Weiblichkeit.<br />
In einem ebenfalls gut recherchierten dritten<br />
Abschnitt zeigt der Autor, wie sich verschiedene Genres<br />
der Kunst <strong>und</strong> Kultur dem Regime unterordneten<br />
<strong>und</strong> sich – freiwillig oder gezwungen – in den Dienst<br />
des Krieges gegen den Iran stellten.<br />
Im Mittelpunkt der Untersuchung des zweiten Teils<br />
stehen die Beziehungen zwischen dem Regime <strong>und</strong><br />
der Generalunion Irakischer Frauen (GFIW), einer zivilen<br />
Massenorganisation der Bath-Partei. Auch hier<br />
untersucht Rohde die Risse in der scheinbar monolithischen<br />
Herrschaft der Bath-Partei bzw. Saddam<br />
Husseins. Er weist dabei überzeugend nach, dass innerhalb<br />
der Staat <strong>und</strong> Partei bestimmenden Kreise,<br />
aber auch in einem breiteren öffentlichen Rahmen<br />
durchaus ein – wenn auch geringer – Spielraum für<br />
Diskussionen <strong>und</strong> Aush<strong>and</strong>lungen divergierender gesellschaftlicher<br />
<strong>und</strong> politischer Interessen best<strong>and</strong>.<br />
Dies betraf allerdings ausschließlich Bereiche, denen<br />
das Regime keine Relevanz beimaß, wie der Gender-<br />
Politik.<br />
Achim Rohde zeigt, dass es der GFIW vor allem<br />
während der Stabilisierungsphase des Regimes in den<br />
Jahren 1968-1974 gelang, ihre Forderungen zu artikulieren,<br />
einige davon sogar durchzusetzen <strong>und</strong> damit<br />
eine Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der<br />
irakischen Frauen zu erreichen. Rohde zeigt aber<br />
auch, dass sich die GFIW trotz gelegentlicher <strong>und</strong><br />
verhaltener Proteste seit dem Beginn des Krieges gegen<br />
den Iran in den vom Regime gesteckten Rahmen<br />
einfügte, dass sie die 1986 vom Regime befohlene<br />
Wende hin zu einer traditionellen Geschlechterpolitik<br />
akzeptierte <strong>und</strong> dass sie sich schließlich in den 90er<br />
Jahren auch in die sogenannte Glaubenskampagne des<br />
Regimes einbeziehen ließ. Die GFIW, daran lässt der<br />
Autor keine Zweifel, war von Anfang an ein Kontroll-<br />
<strong>und</strong> Mobilisierungsinstrument des Regimes <strong>und</strong> damit<br />
Komplizin in einem verbrecherischen System. Dass<br />
sie es dabei bisweilen verst<strong>and</strong>, ihre engen Freiräume<br />
zu nutzen, um eigene Belange durchzusetzen, lag<br />
nach Ansicht des Autors vor allem daran, dass das<br />
Regime bzw. Saddam Husain keine eigenständige ko-<br />
härente Geschlechterpolitik konzipiert hatte <strong>und</strong> diese<br />
den jeweiligen politischen <strong>und</strong> ökonomischen Erfordernissen<br />
unterordnete. Das Buch von Achim Rohde<br />
ist auch deswegen ein wichtiger Beitrag für die Irak-<br />
Forschung, weil es mit der GFIW zum ersten Mal einen<br />
bislang kaum wahrgenommenen politischen Akteur<br />
einer detaillierten Untersuchung unterzieht. Es ist<br />
nicht ersichtlich, warum der Titel des Buches diesen<br />
inhaltlichen Schwerpunkt nicht berücksichtigt.<br />
Florian Bernhardt, Berlin<br />
� � �<br />
Roll, Stephan (2010): Geld <strong>und</strong> Macht. Finanzsektorreformen<br />
<strong>und</strong> politische Bedeutungszunahme<br />
der Unternehmer- <strong>und</strong> Finanzelite in Ägypten. –<br />
Hans Schiler: Berlin, 354 S.<br />
Das Tora-Gefängnis am südlichen Stadtr<strong>and</strong> von<br />
Kairo beherbergt seit Mitte April 2011 prominente Insassen:<br />
Gamal Mubarak, der sich schon als der Nachfolger<br />
seines Vaters auf dem Weg zur Staatsspitze<br />
wähnte, <strong>und</strong> sein älterer Bruder Ala’, in einer Zelle<br />
vereint. Bei ihrem täglichen R<strong>und</strong>gang im Gefängnishof<br />
können sie <strong>and</strong>ere ranghohe Vertreter des geschassten<br />
Regimes treffen wie den früheren Ministerpräsidenten<br />
Ahmad Nazif, Mubaraks Stabschef Zakariya<br />
Azmi, Parlamentspräsident Fathi Surrur, den Generalsekretär<br />
der aufgelösten Staatspartei, Safwat al-<br />
Scharif, Innenminister Habib al-Adli <strong>und</strong> den Stahlunternehmer<br />
Ahmad Izz.<br />
Rolls Dissertation konzentriert sich auf die Verflechtung<br />
von Unternehmern, die von dem gestürzten<br />
Regime begünstigt worden waren <strong>und</strong> ihre finanziellen<br />
Machtstellungen zur Stützung dieses Regimes einsetzten,<br />
<strong>und</strong> der Staatsführung. Besonderes Interesse<br />
heischen die vom Verfasser dargelegten wirtschaftlich-politischen<br />
Verhältnisse vor allem der Mubarak-<br />
Ära, die zu der – im Sommer 2011 noch offenen –<br />
Frage verleiten, ob sich infolge des Umsturzes in<br />
Ägypten die Verhältnisse gr<strong>und</strong>legend verändert haben<br />
oder ob eben die Protagonisten des gestürzten<br />
Regimes, zumindest ein Teil von ihnen, hinter Gittern<br />
sind, während die Machtstrukturen fortleben.<br />
199