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4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations

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REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />

mit der Problematik <strong>und</strong> konstituiert dadurch eine<br />

Barrikade für die Lösungsfindung. Mit H<strong>and</strong>lungen,<br />

die aus Dichotomien hervorgehen, kann der Krieg gegen<br />

den Terrorismus nicht gewonnen werden.<br />

Mit seinem Buch „Black Box Dschihad“ durchbricht<br />

Martin Schäuble gängige massenmediale<br />

Schwarz-Weiß-Raster <strong>und</strong> stellt das Phänomen des<br />

Dschihadismus detailgetreu in Graustufen dar. Einfühlsam<br />

rekonstruiert er die Biografien zweier Menschen,<br />

die in den Bannkreis der dschihadistischen<br />

Ideologie geraten sind. Der im Wohlst<strong>and</strong> aufgewachsene<br />

Saarländer Daniel gehörte zur Sauerl<strong>and</strong>-Gruppe,<br />

deren Anschlagspläne von Sicherheitsbehörden vereitelt<br />

wurden. Sa'ed, ein junger Palästinenser aus einer<br />

mittellosen Familie in Nablus, verübte in Jerusalem<br />

ein Selbstmordattentat, bei dem er sieben Menschen<br />

mit in den Tod riss. Der Autor erzählt den Lebensweg<br />

der beiden Protagonisten chronologisch von Geburt<br />

an, wobei er bei der Beschreibung der einzelnen Lebensphasen<br />

zwischen Daniel <strong>und</strong> Sa'ed abwechselt.<br />

Das dramaturgische Element der Gegenüberstellung<br />

führt zu einer Verdichtung des Kontrasts: Eindringlich<br />

wird nachvollziehbar, dass man nicht als „Terrorist“,<br />

als „Böser“, geboren wird, sondern Dschihadismus<br />

vielmehr ein Phänomen ist, von dem sehr viele<br />

unterschiedliche Menschen betroffen sein können.<br />

Während Palästinenser im Westen oftmals stereotypisch<br />

mit Selbstmordattentaten assoziiert werden <strong>und</strong><br />

sich Sa'eds Schicksal daher theoretisch noch in ein<br />

klischeehaftes Weltbild hineinpressen ließe, zeigt das<br />

Beispiel Daniel, dass jem<strong>and</strong>, der in einer demokratisch-westlichen<br />

Konsumgesellschaft aufgewachsen<br />

ist, ebenso ins Gravitationsfeld des Dschihadismus<br />

hineingezogen werden kann, wodurch jeder stereotypische<br />

Interpretationsrahmen ad absurdum geführt<br />

wird.<br />

Mit großer Detailgenauigkeit rekonstruiert Martin<br />

Schäuble die Geschehnisse im Leben der beiden Protagonisten,<br />

lässt aus den einzelnen Puzzleteilen ein<br />

hochauflösendes Bild entstehen. Für seine Recherchen<br />

ist er den Fußspuren von Daniel <strong>und</strong> Sa'ed gefolgt,<br />

hat sich an die Orte des Geschehens begeben,<br />

deren Aura er in atmosphärisch dichten Beschreibungen<br />

wiedergibt, <strong>und</strong> mit zahlreichen Augenzeugen aus<br />

dem Leben der Personen gesprochen (u.a. Angehöri-<br />

ge, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Lehrer). Seine zeitaufwändige Methode<br />

der Feldforschung ermöglicht es ihm, eine Fülle<br />

von Informa<strong>tionen</strong> an die Oberfläche zu bringen, die<br />

in keinem Medienbericht zu finden sind <strong>und</strong> sich in<br />

ihrer graduellen Entfaltung spannender als ein Kriminalroman<br />

lesen. Informationslücken, die nicht recherchierbar<br />

waren – sei es auf Gr<strong>und</strong> der kl<strong>and</strong>estinen<br />

Beschaffenheit terroristischer Organisa<strong>tionen</strong> oder<br />

wegen der fehlenden Aussagebereitschaft von Augenzeugen<br />

– überbrückt er kreativ, indem er auf ähnlich<br />

gelagerte Fallbeispiele umschwenkt. Da er sich routiniert<br />

an die Fakten hält, ohne dabei zu werten, bleibt<br />

er in der Praxis verhaftet <strong>und</strong> vermittelt ein authentisches,<br />

mit Leben gefülltes Bild des Geschehens. Seine<br />

f<strong>und</strong>ierten Kenntnisse über Dschihadis-mus <strong>und</strong> Nahost-Konflikt,<br />

die er bereits in seinem Buch „Die Geschichte<br />

der Israelis <strong>und</strong> Palästinenser“ (Hanser Verlag)<br />

bewies, lässt er dosiert einfließen, wodurch der<br />

Leser viel lernt, ohne dabei mit Wissen überfrachtet<br />

zu werden.<br />

Dank seiner Leistung, komplexe Sachverhalte knapp<br />

<strong>und</strong> verständlich auf den Punkt zu bringen, ist das<br />

Buch auch als Einstieg in die Thematik empfehlenswert<br />

<strong>und</strong> eignet sich für junge Leser. Da die Propag<strong>and</strong>a<br />

Al-Qaida-naher Gruppierungen insbesondere<br />

auf jugendliche Adressaten abzielt <strong>und</strong> eine sachliche<br />

Aufklärungsarbeit in dieser Altersgruppe wichtig ist,<br />

ist diese Leistung besonders hervorzuheben. Wer tiefer<br />

in die Materie einsteigen möchte, sollte die erweiterte<br />

Fachbuch-Version „Dschihadisten. Feldforschung<br />

in den Milieus“ (Verlag Hans Schiler) lesen,<br />

in welcher der Autor umfassend auf seine Methodik<br />

der Feldforschung eingeht <strong>und</strong> die beiden Attentäter-<br />

Biografien en détail analysiert.<br />

Indem er auch das soziale Beziehungsgeflecht, in<br />

dem seine Protagonisten leb(t)en untersucht, beweist<br />

er eindringlich, dass ein „Terrorist“ nicht im luftleeren<br />

Raum existiert, sondern Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e hat,<br />

die darunter leiden, dass er ihnen entgleitet, <strong>und</strong> der –<br />

wie im Falle Sa'eds – mit seinem Tod eine schmerzliche<br />

Lücke hinterlässt. Schäubles Bereitschaft, die Attentäter<br />

als Menschen darzustellen <strong>und</strong> sie nicht zu<br />

dämonisieren oder zu dehumanisieren, regt den Leser<br />

gekonnt zum Nachdenken an. Die Einsicht, dass „besonders<br />

schreckliche Verbrechen [...] nicht durch<br />

ebenso schreckliche Menschen begangen werden“ 1<br />

müssen, wie es der Rechtswissenschaftler <strong>und</strong> Kriminologe<br />

Frank Neubacher treffend formuliert, ist von<br />

unschätzbarem Wert, weil sie die conditio sine qua<br />

non für eine erfolgreiche Terrorismusbekämpfung ist.<br />

Judith Tinnes, Merzig-Mondorf<br />

� � �<br />

Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg., 2010): Islamfeindlichkeit<br />

– Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen.<br />

– (2. aktualisierte <strong>und</strong> erweiterte Auflage),<br />

VS Verlag: Wiesbaden, 498 S.<br />

1 Neubacher, Frank (2010): Terrorismus – Was haben »Rote<br />

Armee Fraktion« <strong>und</strong> »Jihadisten« gemeinsam? In: JURA, Heft<br />

10/2010, S. 744-749.<br />

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