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4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations

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REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />

eignung (dispossession) <strong>und</strong> Zerstreuung (dispersal)<br />

erlitten; mehr als 700.000, etwa die Hälfte der einheimischen<br />

Bevölkerung, wurden zu Flüchtlingen; der<br />

Name Palästina wurde von der L<strong>and</strong>karte getilgt. Dieses<br />

Ergebnis des Krieges bilde nicht nur eine Ungerechtigkeit,<br />

sondern sei eine Katastrophe (al-nakba)<br />

gewesen <strong>und</strong> habe eine tiefgehende seelische W<strong>und</strong>e<br />

(profo<strong>und</strong> trauma) hinterlassen.<br />

”Doch die Juden erlitten ebenfalls ein Unrecht, vielleicht<br />

das größte Unrecht des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts – den<br />

Holocaust”, fährt Shlaim fort <strong>und</strong> zuerkennt ihnen<br />

“wie irgendeinem <strong>and</strong>eren Volk” das natürliche Recht<br />

auf nationale Selbstbestimmung. Seine Schlussfolgerung:<br />

Nach dem fürchterlichen Leiden, das Nazi-<br />

Deutschl<strong>and</strong> den Juden Europas zugefügt hätten, sei<br />

es eine unvermeidliche Tatsache (inescapable fact)<br />

gewesen, dass etwas von riesigem Ausmaß (titanic<br />

scale) für sie zu tun war, “<strong>und</strong> da war nichts riesig genug<br />

außer Palästina”. Die Araber, so räumt er ein, seien<br />

nicht verantwortlich für die barbarische Beh<strong>and</strong>lung<br />

der Juden im Herzen des christlichen Europa; die<br />

meisten Araber empf<strong>and</strong>en folglich das “Geschenk”<br />

(gift) eines Teils von Palästina an die Juden als widerrechtlich<br />

(illegal). Die Resolution der Vereinten Na<strong>tionen</strong><br />

vom 29. November 1947, die das britische M<strong>and</strong>atsgebiet<br />

Palästina in zwei Staaten, einen jüdischen<br />

<strong>und</strong> einen arabischen, teilte, mag nach Shlaims Ansicht<br />

ungerecht, kann jedoch nicht widerrechtlich<br />

sein. Hat das Recht der Juden auf nationale Selbstbestimmung,<br />

so lässt sich aus palästinensischer Sicht<br />

einwenden, Vorrang vor dem Recht der einheimischen<br />

arabischen Bevölkerung?<br />

Für Shlaim, der die Grenzen der Waffenstillst<strong>and</strong>svereinbarungen<br />

Israels mit seinen Nachbarn von 1949<br />

als die einzigen rechtmäßigen anerkennt, ist Israel erst<br />

nach dem Krieg vom Juni 1967 zur Kolonialmacht<br />

geworden. Innerhalb von Monaten nach dem Waffenstillst<strong>and</strong><br />

habe Israel begonnen, in offener Verletzung<br />

der Vierten Genfer Konvention zivile Siedlungen in<br />

den besetzten Gebieten zu errichten. Shlaim anerkennt<br />

die Rechtmäßigkeit des Staates Israel in den Grenzen<br />

von vor dem Juni-Krieg; den zionistischen kolonialen<br />

Plan (Zionist colonial project) jenseits dieser Grenzen<br />

lehnt er jedoch gänzlich, vollständig <strong>und</strong> kompromisslos<br />

(utterly, completely <strong>and</strong> uncompromisingly) ab (S.<br />

X-XII).<br />

Das gewaltsame Vorgehen der Zionisten gegen die<br />

einheimische arabische Bevölkerung Palästinas begann<br />

freilich nicht erst im Krieg von 1948. Aus der<br />

Frühzeit der jüdischen Besiedlung Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

führt Shlaim Ahad Ha’am (Asher Zvi Ginsberg),<br />

einen liberalen russischen Intellektuellen (thinker),<br />

an, der Palästina 1891 besuchte <strong>und</strong> in einer Artikelserie<br />

das “aggressive Verhalten” der Siedler<br />

scharf kritisierte. Diese glaubten, so zitiert Shlaim<br />

Ha’am, die einzige Sprache, welche die Araber verstünden,<br />

sei die Gewalt. Sie verhielten sich gegenüber<br />

den Einheimischen feindselig <strong>und</strong> grausam; überschritten<br />

ungerechtfertigt ihre Grenzen, schlügen sie<br />

in schändlicher Weise ohne Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> rühmten sich<br />

dessen auch noch; niem<strong>and</strong> biete dieser gemeinen <strong>und</strong><br />

gefährlich Neigung (tendency) Einhalt. Dazu Shlaim:<br />

208<br />

“Wenig scheint sich geändert zu haben, seit Ahad<br />

Ha’am diese Worte vor einem Jahrh<strong>und</strong>ert schrieb.”<br />

(S. 56)<br />

Dass die meisten zionistischen Führer einen größtmöglichen<br />

Staat in Palästina mit möglichst wenigen<br />

Arabern anstrebten, steht für Shlaim außer Frage.<br />

Schon bei der Pariser Friedenskonferenz von 1919<br />

verlangte Chaim Weizmann, später der erste Staatspräsident,<br />

ein Palästina “so jüdisch, wie Engl<strong>and</strong> englisch<br />

ist”. Dabei war Weizmann, so Shlaim, einer von<br />

den Gemäßigten. 1930, vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Unruhen<br />

in Palästina, erörterte Weizmann “versuchsweise”<br />

(tentatively) die Idee einer arabischen “Umsiedlung”<br />

(transfer) mit britischen Offiziellen, offenbar<br />

ohne Erfolg. Erst als die britische Regierung 1936 die<br />

Peel-Kommission zur Untersuchung der Unruhen einsetzte,<br />

begannen Weizmann <strong>und</strong> seine Kollegen aktiv,<br />

wenn auch noch diskret für eine “freiwillige” Umsiedlung<br />

verdrängter (displaced) arabischer Bauern nach<br />

Transjordanien hinzuarbeiten.<br />

Moralische Aspekte der Umsiedlung waren für David<br />

Ben Gurion, den ersten Ministerpräsidenten, niemals<br />

ein Problem, die wachsende Stärke der Jüdischen<br />

Agentur überzeugten ihn schließlich von ihrer<br />

Durchführbarkeit (feasibility). Shlaim zitiert eine Eintragung<br />

aus seinem Tagebuch vom 12. Juli 1937: “Die<br />

zwangsweise Umsiedlung der Araber von den Tälern<br />

des vorgeschlagenen jüdischen Staates könnte uns etwas<br />

geben, das wir niemals hatten … ein Galiläa frei<br />

von arabischer Bevölkerung … Wir müssen aus unseren<br />

Herzen die Annahme ausmerzen, dass die Sache<br />

(thing) nicht möglich ist. Sie kann getan werden.” Je<br />

mehr er darüber nachdachte, desto mehr wurde er<br />

überzeugt, dass die “Sache” nicht nur getan werden<br />

könne, sondern getan werden müsse, bemerkt Shlaim<br />

<strong>und</strong> zitiert aus einem Brief an seinen Sohn vom 5. Oktober<br />

1937: “Wir müssen die Araber vertreiben <strong>und</strong><br />

ihre Plätze einnehmen … <strong>und</strong>, falls wir Gewalt anwenden<br />

müssen – nicht die Araber des Negev <strong>und</strong><br />

Transjordaniens zu enteignen, sondern unser Recht zu<br />

sichern, in diesen Gegenden zu siedeln – dann steht<br />

uns Gewalt zur Verfügung” (S. 58).<br />

Diese Absichten wurden im Krieg von 1948 verwirklicht.<br />

Ben Gurion wird in den von Shlaim zitierten<br />

Büchern der Historiker Ilan Pappe, Benny Morris<br />

<strong>und</strong> Nur Masalha als der große Vertreiber (expeller)<br />

geschildert. Er führt “Plan D” der Haganah vom März<br />

1948 als Gesamtplan (master plan) zur Vertreibung<br />

von so vielen Palästinensern wie möglich an (S. 60f.).<br />

Das auch auf Deutsch veröffentlichte Buch seines<br />

Fre<strong>und</strong>es <strong>und</strong> Kollegen Pappe über die “ethnische<br />

Säuberung” Palästinas (2006), in dem die Einzelheiten<br />

des Planes <strong>und</strong> seiner Ausführung dargelegt werden,<br />

war zum Zeitpunkt des Artikels noch nicht erschienen.<br />

Ben Gurions Nachfolger hatten in Shlaims Darstellung<br />

ebenso wenig friedliche Absichten. Ben Gurions<br />

Außenministerin Golda Meir nennt Shlaim die vollkommene<br />

H<strong>and</strong>langerin der Politik des auf die Köpfe<br />

Schlagens (clobbing on the head), bis sie [die Araber]<br />

sich ergeben. Die arabische Feindseligkeit war für sie<br />

nicht eine natürliche Reaktion auf den Verlust Paläs-

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