4 Dissertationen und Habilita- tionen / Dissertations and Habilitations
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REZENSIONEN BOOK REVIEW<br />
Ich als Person erst im religiösen Glauben <strong>und</strong> hiervon<br />
ausgehend im gesellschaftspolitischen Agieren im<br />
Sinne der Gemeinschaft mit <strong>and</strong>eren seine volle Kraft<br />
entfaltet.<br />
In der Einleitung dieser Werkzusammenstellung erläutert<br />
der Übersetzer die Gr<strong>und</strong>lage von Lahbabis im<br />
Islam verwurzeltem philosophischen Denken <strong>und</strong><br />
stellt den historischen Kontext heraus, in dem der marokkanische<br />
Autor seine Ideen aufgenommen <strong>und</strong> publiziert<br />
hat. Das muslimische Glaubenszeugnis, die<br />
shahada, interpretierte Lahbabi dabei als intellektuelle<br />
<strong>und</strong> moralische Basis, von der aus er seine islamische<br />
Anthropologie ableitete.<br />
Um möglichst nahe an Lahbabis Islamverständnis<br />
zu bleiben, hat Kneer die zur Untermauerung der philosophischen<br />
Ideen <strong>und</strong> Leitthesen verw<strong>and</strong>ten Koranzitate<br />
nicht eigenständig aus dem Arabischen ins<br />
Deutsche übersetzen lassen, sondern sich hierbei an<br />
der französischen Übersetzung von Lahbabi selbst<br />
orientiert. Vollständig auf Deutsch übersetzt liegen<br />
nun Lahbabis bedeutendstes Werk „Der muslimische<br />
Personalismus“ <strong>und</strong> drei weitere für das Verständnis<br />
seines Denkens zentrale Werke vor. Hierbei gelangt<br />
Lahbabis Auflösung des vermeintlichen Gegensatzes<br />
zwischen der Betonung des Ich als Person <strong>und</strong> der<br />
Orientierung an der Gemeinschaft mit <strong>and</strong>eren zum<br />
Ausdruck.<br />
Lahbabi baute seine Philosophie auf zentralen Gedanken<br />
islamischer Philosophen sowohl des Mittelalters<br />
wie Avicenna, Averroes <strong>und</strong> Ibn Khaldun, als<br />
auch der Moderne wie Muhammed Iqbal, Jamal ad<br />
Din Al-Afghani <strong>und</strong> Rashid Rida auf, lehnte sich aber<br />
ebenso an die französischen Humanisten wie Henri-<br />
Louis Bergson <strong>und</strong> Emmanuel Mounier an. Hiervon<br />
ausgehend kritisierte der marokkanische Gelehrte depersonalisierende<br />
Strukturen, die er sowohl in der islamisch-orientalischen<br />
Gesellschaft wahrnahm als<br />
auch im christlich geprägten Europa der 1950er <strong>und</strong><br />
1960er Jahre. Diesem stellte er den von ihm entwickelten<br />
fortschrittsorientierten Personenbegriff gegenüber,<br />
der sowohl für die islamische als auch die<br />
westliche Zivilisation eine Befreiungsbewegung initiieren<br />
könne, die sich nicht mit der inneren Befreiung<br />
des Individuums zufrieden gebe, sondern darüber hinaus<br />
die äußeren Umstände für Freiheit herzustellen<br />
beanspruche.<br />
Das Personenverständnis des Islam biete hierfür die<br />
Gr<strong>und</strong>lage. Das Individuum trete als eigenständige<br />
Person aus dem Stammeskollektiv heraus <strong>und</strong> vollziehe<br />
in seiner Bezeugung des Glaubens an den einzigen<br />
Gott einen konstitutiven Akt der Personenwerdung.<br />
Weil es seinen Prozess der Personenwerdung<br />
zugleich in der Kommunikation mit <strong>and</strong>eren, die im<br />
Islam vor Gott als gleichrangig angesehen sind, erfahre,<br />
sei durch die Islamisierung die Basis für eine<br />
Überwindung der Sklaverei <strong>und</strong> die gesellschaftliche<br />
Gleichstellung verschiedener Stammeszugehörigkeiten,<br />
Rassen sowie der beiden Geschlechter gelegt<br />
worden. Auf diesem F<strong>und</strong>ament ließen sich, Lahbabi<br />
zufolge, auch gegenwärtige politisch-gesellschaftliche<br />
Ungerechtigkeiten wie die Abhängigkeit der Dritten<br />
Welt von westlichem Kapital überwinden <strong>und</strong> hier-<br />
von ausgehend die verschiedenen Zivilisa<strong>tionen</strong> als<br />
gleichberechtigte Partner im Sinne einer gemeinsamen<br />
globalen Zukunft zusammenführen.<br />
Lahbabis Gr<strong>und</strong>respekt gegenüber der abendländischen<br />
Philosophie <strong>und</strong> ihres geistigen Gerüsts für die<br />
gegenwärtige Fortschrittlichkeit des Okzidents in<br />
ökonomisch-technologischer Hinsicht hat ihn nie dazu<br />
verleitet, seine eigene Gesellschaft zur unreflektierten<br />
Nachahmung westlicher Weltanschauungen aufzufordern.<br />
Vielmehr erkannte er im islamischen Menschenbild<br />
ein egalitäres Element, dass er im frankophonen<br />
katholischen Christentum vermisste. Anders<br />
als die römisch katholische Kirche kenne der Islam<br />
die Erbsünde nicht <strong>und</strong> treffe auch keine Unterscheidung<br />
zwischen Laie <strong>und</strong> Klerus in der Beziehung zu<br />
Gott. Jedes gläubige Individuum bekenne sich unabhängig<br />
von <strong>and</strong>eren zur Wahrheit <strong>und</strong> lege vor dem<br />
Schöpfer Himmels <strong>und</strong> der Erden eigenständig sein<br />
Zeugnis ab.<br />
Diese Autonomie des einzelnen Muslims lege zudem<br />
die eigenständige Suche nach einem Zugang zum<br />
Wort Gottes nahe. Gott <strong>und</strong> seine Propheten sind diesem<br />
Verständnis nach die einzigen absoluten Autoritäten.<br />
Der Einzelne sieht sich dementsprechend aufgefordert,<br />
im rationalen, kontext- <strong>und</strong> gesellschaftsbezogenen<br />
H<strong>and</strong>eln den Willen des Schöpfers zur Geltung<br />
zu bringen. In Anlehnung an Mounier versteht<br />
Lahbabi die Person als schöpferischen Prozess mit<br />
dem Primat des Geistigen <strong>und</strong> erkennt gerade für die<br />
religiöse Person die Vernunft als zentralen Wert an.<br />
Mit der ijtihad, der zeit- <strong>und</strong> gesellschaftsbezogenen<br />
Neuauslegung von Koran <strong>und</strong> Sunna besitze der Muslim<br />
ein Instrument, seine religiösen Aufforderungen<br />
rational im Dienste seiner selbst als Person wie der<br />
Gemeinschaft mit Mitmenschen einzusetzen.<br />
Lahbabi kritisiert die unter islamischen Gelehrten<br />
lange Zeit dominierende Auffassung, das Tor zur<br />
ijtihad sei geschlossen <strong>und</strong> die unreflektierte Nachahmung<br />
der Erkenntnisse von Lehrautoritäten aus der<br />
Vergangenheit das einzige Erfordernis des Muslimen.<br />
Diese Sichtweise habe in der muslimischen Gesellschaft<br />
eine Autoritätshörigkeit bewirkt, die dem eigentlichen<br />
islamischen Personenbegriff in keiner<br />
Weise gerecht werde. Hierfür weist Lahbabi der sufistischen<br />
Mystik eine wesentliche Verantwortung zu.<br />
Dieser stellt er die Salafiyya gegenüber, die zu den<br />
ursprünglichen islamischen Quellen zurückführe <strong>und</strong><br />
das Tor des ijtihad wieder öffne. Das im Westen vielfach<br />
vorherrschende Bild der Salafiten mit Rückwärtsgew<strong>and</strong>theit<br />
sucht Lahbabi zurecht zu rücken.<br />
Zudem begreift er die Philosophie als Schwester der<br />
Religion, die uns Menschen dazu bringe, die göttliche<br />
Wahrheit aus den verschiedensten Blickwinkeln zu<br />
erfahren.<br />
Für Lahbabi steht die Vernunft auch im unmittelbaren<br />
Bezug zur Religion immer im Mittelpunkt. Sie<br />
ermögliche, Gottes Wort zu verstehen, indem die Rationalität<br />
innerhalb der islamischen Lehre erkannt <strong>und</strong><br />
aufgezeigt werde. Die muslimische Person lasse <strong>and</strong>ere<br />
durch eigenes islamkonformes H<strong>and</strong>eln den Islam<br />
verstehen. In diesem Sinne bilde die Religion ein verbindendes<br />
Element für eine menschliche Gemein-<br />
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