Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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sprachkundig ist (die betreffende Aussage also richtig versteht, 4) über normale,<br />
intakte Sinne verfügt und 5) sachkundig ist.<br />
Im Allgemeinen verlangen die Vertreter <strong>der</strong> Konsenstheorie als Bedingung für die<br />
Wahrheit einer Aussage nicht, dass <strong>der</strong> Konsens über sie tatsächlich hergestellt wird.<br />
Sonst würden nämlich die allermeisten Aussagen in Bezug auf Wahrheit unbestimmt<br />
sein. Damit eine Aussage wahr ist, genügt es vielmehr, dass alle Personen unter den<br />
idealen Bedingungen zustimmen würden.<br />
Jürgen Habermas hat eine zeitlang ebenfalls eine Konsenstheorie <strong>der</strong> Wahrheit<br />
vertreten (später aber aufgegeben), die als Weiterentwicklung <strong>der</strong> Auffassung von<br />
Kamlah und Lorenzen verstanden werden kann. Seine Version <strong>der</strong> Konsenstheorie<br />
<strong>der</strong> Wahrheit ist Teil seiner Diskurstheorie. Habermas geht davon aus, dass in einem<br />
Diskurs unter bestimmten Bedingungen eine ideale Sprechsituation vorliegt. Zu diesen<br />
Bedingungen gehört, dass je<strong>der</strong> potentielle Teilnehmer des Diskurses die gleiche<br />
Chance hat, Fragen und Antworten zu äußern, Behauptungen aufzustellen, zu<br />
wi<strong>der</strong>sprechen und Rechtfertigungen vorzubringen. Ein Konsens, <strong>der</strong> in einer<br />
solchen idealen Sprechsituation zustande kommt, gilt per Definition als wahrer<br />
Konsens.<br />
Es ist klar, dass die genannten idealen Bedingungen niemals vollkommen erfüllt sein<br />
können, son<strong>der</strong>n höchstens annäherungsweise. Das wird von den Vertretern <strong>der</strong><br />
Konsenstheorie zugestanden. Daraus ergibt sich allerdings, dass auch die<br />
Konsenstheorie nicht beanspruchen kann, mit einer Wahrheitsdefinition zugleich ein<br />
Verfahren zur definitiven Feststellung <strong>der</strong> Wahrheit geliefert zu haben. Nehmen wir<br />
an, es gäbe einen Konsens über die Aussage A. Dann wäre die Wahrheit von A<br />
dennoch nicht gewiss, weil wir nicht mit Sicherheit wissen können, ob die Beurteiler<br />
alle hinreichend sachkundig waren (was immer das genau heißt) bzw. ob alle die<br />
gleichen Chancen hatten, ihre Thesen und Argumente vorzubringen. Im Hinblick auf<br />
die Eindeutigkeit <strong>der</strong> Wahrheitsfeststellung bietet die Konsenstheorie also gegenüber<br />
<strong>der</strong> Korrespondenztheorie letztlich keinen Vorteil.<br />
Überdies muss man aber die Frage stellen, ob es denn sinnvoll und zweckmäßig ist,<br />
den Wahrheitsbegriff auf diese Weise festzulegen. Ist es wirklich die so definierte<br />
Wahrheit, die jemand anstrebt, <strong>der</strong> Erkenntnis zum Ziel hat? Wäre z.B. die Aussage<br />
„Die Erde ist flach“ wahr, wenn es in einer idealen Sprechsituation einen Konsens<br />
darüber gäbe? Natürlich wäre sie in diesem Fall „wahr“ gemäß <strong>der</strong> Konsenstheorie.<br />
Nun war es zu gewissen Zeiten den Menschen nicht möglich, zu erkennen und<br />
nachzuweisen, dass die Erde rund und nicht flach ist. Auch eine ideale<br />
Sprechsituation hätte hier nicht weitergeholfen. Die Frage ist, ob wir deshalb sagen<br />
wollen, die Aussage „Die Erde ist flach“ sei damals wahr gewesen (während sie aus<br />
heutiger Sicht falsch sei). Ist es nicht überzeugen<strong>der</strong> zu sagen, diese Aussage sei<br />
schon damals falsch gewesen; die Menschen haben sich damals getäuscht (nicht aus