Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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„Fingerspitzengefühl” in dieser Tätigkeit. Am Beispiel <strong>der</strong> Forschung über<br />
Leistungsmotivation: Man lernt, die Formeln A1 bis A6 kompetent zu handhaben, um<br />
abzuleiten, was passiert, wenn Personen in bestimmten Situationen handeln, etwa in<br />
einer Situation, die Ausdauer verlangt o<strong>der</strong> die ein ständig neues Setzen des<br />
Anspruchsniveaus vorsieht. Wissenschaftler lernen auch, in Teleskopen,<br />
Mikroskopen o<strong>der</strong> auf Röntgenbil<strong>der</strong>n Dinge zu „sehen”, die ihnen am Anfang<br />
schwer identifizierbar und abgrenzbar erscheinen, nach längerer Übung aber<br />
geradezu ins Auge springen. Nach Kuhn erlernt man das Paradigma hauptsächlich<br />
dadurch, dass man das großenteils implizite Wissen erwirbt, mit dessen Hilfe man<br />
im Rahmen des Paradigmas Aufgaben löst.<br />
Beispiele für ein Paradigma im Sinne Kuhns sind: das Weltbild von Ptolemäus (Erde<br />
im Mittelpunkt), das Weltbild von Kopernikus (Sonne im Mittelpunkt, die klassische<br />
Mechanik (Newton), die Relativitätstheorie (Einstein), die Evolutionstheorie<br />
(Darwin). In den Wissenschaften vom Menschen kann man als Paradigmen<br />
betrachten: die neoklassische Ökonomie, den Behaviorismus, die kognitive<br />
Psychologie, die soziologische Theorie von Parsons.<br />
Kuhn ist <strong>der</strong> Meinung, dass es auf einem Wissenschaftsgebiet (z.B. Mechanik, Optik)<br />
immer nur ein Paradigma zu einer bestimmten Zeit geben kann. In den<br />
Wissenschaften vom Menschen scheint es aber häufig mehrere Paradigmen<br />
gleichzeitig zu geben. Kuhn selbst und manche seiner Anhänger sind <strong>der</strong> Auffassung,<br />
dass sich Wissenschaften, in denen es nicht nur ein Paradigma zu einer bestimmten<br />
Zeit gibt, noch in einer vorwissenschaftlichen Phase befinden, die es zu<br />
überwinden gilt. Diese Einschätzung wird aber den Wissenschaften vom Menschen<br />
nicht gerecht. Vielleicht kann es dort wegen des komplexeren Gegenstandes niemals<br />
nur ein Paradigma geben.<br />
Die produktive Phase <strong>der</strong> Forschung ist nach Kuhn interessanterweise die<br />
Normalwissenschaft (und nicht die wissenschaftliche Revolution). Die Wissenschaftsgemeinschaft<br />
besitzt ein Paradigma, das als selbstverständlich gilt. Durch das<br />
Paradigma wird die Forschungsarbeit bestimmt, die Kuhn als Rätsellösen bezeichnet;<br />
z.B. die genauen Bahnen <strong>der</strong> Himmelskörper berechnen, die Gravitationskonstante<br />
bestimmen. Am Beispiel <strong>der</strong> Leistungsmotivation: die Tests zu Messung <strong>der</strong><br />
Leistungsmotive verbessern, die Theorie auf beson<strong>der</strong>e Personengruppen anwenden<br />
(z.B. zweiter Bildungsweg, Hochbegabte, Kin<strong>der</strong> mit Schulschwierigkeiten). Wichtig<br />
ist: Das Rätsellösen ist kein Prüfen des Paradigmas. Der Normalwissenschaftler ist<br />
gegenüber dem Paradigma unkritisch (und soll es nach Kuhn auch sein), das<br />
Paradigma ist tabu. Die Wissenschaftler akzeptieren es ähnlich wie einen religiösen<br />
Glauben. Wenn beim Rätsellösen etwas nicht klappt, ist dies ein Misserfolg des<br />
Forschers, niemals des Paradigmas. Kuhn zitiert das Sprichwort: Nur ein schlechter<br />
Zimmermann gibt seinem Werkzeug die Schuld.