Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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Allerdings gibt es zu einem Paradigma immer Rätsel, die sich als hartnäckig erweisen.<br />
Z.B. fügte sich <strong>der</strong> Planet Merkur nicht <strong>der</strong> Bahn, die er nach den Berechnungen<br />
mit Newtons Gesetzen hätte haben müssen. Ein ungelöstes Rätsel wird zu einer<br />
Anomalie. Wenn es zu einem Paradigma zu viele Anomalien gibt, so fangen einige<br />
Wissenschaftler an, am Paradigma zu zweifeln. Es kann zu einer Krise kommen. Die<br />
Wissenschaftsgemeinschaft beginnt, grundlegende Probleme zu diskutieren, eventuell<br />
sogar philosophische. Dies ist nach Kuhn immer ein Zeichen <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Verunsicherung. Normal ist, dass die Wissenschaftsgemeinschaft eine Diskussion<br />
über solche Probleme ablehnt und sich hochgradig spezialisierten Problemen widmet<br />
(hierin sieht Kuhn den Fortschritt in <strong>der</strong> Wissenschaft; für die hochspezialisierte Forschung<br />
müsse man eine unkritische Einstellung gegenüber dem Paradigma haben).<br />
Eine Krise begünstigt das Aufkommen neuer grundlegen<strong>der</strong> Ideen. Ein neues<br />
Paradigma entsteht nicht Schritt für Schritt, son<strong>der</strong>n sozusagen über Nacht. Jemand<br />
hat einen revolutionären Einfall, <strong>der</strong> die Grundannahmen in Frage stellt, an die man<br />
(auf dem betreffenden Wissenschaftsgebiet) bisher glaubte. Und wenn <strong>der</strong> Zweifel<br />
am alten Paradigma stark genug ist, laufen seine Anhänger zum neuen über. Eine<br />
wissenschaftliche Revolution findet statt. Kuhn sagt, dies habe nicht den Charakter<br />
einer logischen Argumentation und rationalen Begründung, son<strong>der</strong>n einer religiösen<br />
Bekehrung. Es gibt einige, vorwiegend ältere Wissenschaftler, die es nicht schaffen,<br />
das alte Paradigma aufzugeben. Sie werden niemals überzeugt, son<strong>der</strong>n sterben<br />
einfach aus.<br />
Das neue Paradigma ist mit dem alten inkommensurabel. D.h. es ist nach Kuhn nicht<br />
so (wie Popper es sieht), dass das neue Paradigma die Tatsachen besser erklären<br />
kann als das alte. Nach Kuhn gibt es nämlich keine Tatsachen bzw. empirischen<br />
Befunde, die vom Paradigma unabhängig existieren würden, so dass man zwei<br />
Paradigmen auf dieselben Tatsachen beziehen und vergleichen könnte. Jedes<br />
Paradigma legt fest, was die relevanten Probleme und Fakten sind. Die Anhänger<br />
des neuen Paradigmas interessieren sich nicht mehr für die Probleme und Tatsachen,<br />
die zuvor als relevant gegolten haben. Kuhn sagt, die Anhänger des neuen<br />
Paradigmas würden in einer an<strong>der</strong>en Welt leben. Daher gibt es von einem Paradigma<br />
zum nächsten auch keinen Erkenntnisfortschritt. Man kann nicht sagen, das eine<br />
Paradigma sei <strong>der</strong> Wahrheit näher als das an<strong>der</strong>e o<strong>der</strong> stelle die Realität zutreffen<strong>der</strong><br />
dar (wie Popper es sieht). Es gibt keine Realität und Wahrheit unabhängig vom<br />
Paradigma.<br />
Kuhns Lehre eignet sich zunächst einmal gut dazu, den Unterschied zwischen<br />
<strong>Wissenschaftsphilosophie</strong> einerseits und Wissenschaftsgeschichte sowie<br />
Wissenschaftsforschung an<strong>der</strong>erseits zu thematisieren. Die <strong>Wissenschaftsphilosophie</strong><br />
strebt normative Aussagen über die Wissenschaft an, die sagen, wie man in <strong>der</strong><br />
Wissenschaft rationalerweise vorgehen sollte. Wissenschaftsgeschichte und<br />
Wissenschaftsforschung machen keine normativen, son<strong>der</strong>n deskriptive Aussagen, die