Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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bzw. Erklärungen bevorzugen und Theorien entsprechend konstruieren bzw.<br />
entwickeln, doch sind diesem Bemühen grundsätzliche Grenzen gesetzt. Stellen wir<br />
uns eine handelnde Person vor. Was alles kann einen Einfluss auf ihr Handeln<br />
haben? Persönlichkeitseigenschaften, verschiedene Motive, Emotionen, kognitive<br />
Prozesse, soziale Einstellungen, Normen, Rollen. Es gibt keine einzelne Theorie, die<br />
alle diese relevanten Faktoren benennen und die Gesetzmäßigkeiten angeben kann,<br />
nach denen diese in Wechselwirkung das Verhalten einer Person hervorbringen.<br />
Vermutlich verhält es sich sogar so, dass die meisten Theorien, vielleicht mit<br />
Ausnahme <strong>der</strong> Theorien über elementare physikalische Prozesse, unvollständig sein<br />
müssen. Jedes Verhalten eines Systems ist unter an<strong>der</strong>em von Bedingungen auf einer<br />
elementareren Ebene abhängig, die auf <strong>der</strong> Beschreibungsebene, auf <strong>der</strong> man sich<br />
gerade befindet, nicht erfasst werden können. Angenommen, es geht um Personen<br />
und ihr Verhalten, und wir hätten eine Theorie, die alle Faktoren nennt (was schwer<br />
vorstellbar ist), die mit Persönlichkeitseigenschaften, Motiven, Emotionen, kognitive<br />
Prozesse, soziale Einstellungen, Normen, Rollen – kurz: mit allen Faktoren, die in<br />
den Wissenschaften vom Menschen überhaupt untersucht werden – zu tun haben<br />
und das Verhalten beeinflussen. Wäre diese Theorie dann vollständig? Sie wäre es<br />
immer noch nicht, denn es gibt Bedingungen auf physikalischer Ebene, die das<br />
Verhalten auch noch beeinflussen. Wenn z.B. aus den gesamten bekannten<br />
psychologischen, soziologischen und ökonomischen Berechnungen eindeutig<br />
hervorgeht, dass die betreffende Person jetzt gleich eine bestimmte Handlung<br />
ausführen müsste (z.B. Zustimmung äußern, aggressiv werden usw.), könnte sie in<br />
diesem Augenblick einen Herzanfall bekommen, o<strong>der</strong> es könnte ihr ein Kronleuchter<br />
auf den Kopf fallen. Dann würde das, was die Theorie sagt, nicht eintreten, selbst<br />
wenn es die beste denkbare sozialwissenschaftliche Theorie wäre. Ähnlich gilt: Eine<br />
Vorhersage mit Hilfe <strong>der</strong> besten denkbaren ökonomischen Theorie wird<br />
möglicherweise nicht eintreten, wenn es plötzlich eine Naturkatastrophe gibt o<strong>der</strong><br />
ein Krieg ausbricht. Eine ökonomische Theorie kann prinzipiell nicht dazu in <strong>der</strong><br />
Lage sein, auch noch über solche Ereignisse etwas auszusagen. Auf biologischer,<br />
psychologischer, soziologischer und ökonomischer Ebene gibt es folglich keine<br />
ausnahmslos gültigen Naturgesetze zur Erklärung des Verhaltens von Systemen. Die<br />
formulierten Gesetzeshypothesen sind immer für den Fall gedacht, dass das<br />
analysierte System (Person, Lebewesen) nicht zerstört und in seinem Funktionieren<br />
nicht zu sehr gestört wird. Insbeson<strong>der</strong>e die letzte Bedingung lässt sich kaum als präzise<br />
Anfangsbedingung in eine Theorie aufnehmen, da es unabgrenzbar viele Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> „Störung” gibt.<br />
Die Unvollständigkeit von Theorien hat ihren Grund darin, dass die Wirklichkeit<br />
komplex ist und es selten vorkommt, dass A allein eine vollständige Ursache für B<br />
ist. Was hat dies nun für den Umgang mit Theorien zur Folge? Man muss den<br />
Einfluss <strong>der</strong> weiteren Einflussfaktoren in Betracht ziehen, wenn man mit einer<br />
Theorie etwas erklären, vorhersagen o<strong>der</strong> gestalten will. Bezeichnen wir diese als