Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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gänzlich unähnlich sind, das ja die physische Grundlage für geistige Vorgänge<br />
darstellt. Dies führte zur Entwicklung von Modellen geistiger Vorgänge, die man als<br />
neuronale Netze bezeichnet, weil sie in Analogie zu neuronalen Prozessen im Gehirn<br />
gestaltet sind (freilich nur in Grundzügen).<br />
Eine beson<strong>der</strong>s wichtige Bedeutung haben im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Theorienbildung<br />
die sogenannten idealen Modelle. Beim Konstruieren von Theorien<br />
denken sich Wissenschaftler den Gegenstandsbereich ihrer Theorie meist etwas<br />
vereinfacht. Man sieht von bestimmten Eigenschaften und Relationen im realen<br />
Gegenstandsbereich ab, obwohl man weiß, dass sie dort vorkommen. Solche idealen<br />
Modelle sind z.B.: <strong>der</strong> freie Fall, Massenpunkte, homogene Körper, ideale Gase,<br />
reibungslose Flüssigkeiten; im sozialwissenschaftlichen Bereich etwa: vollkommen<br />
freie Märkte, ideale Sprecher/Hörer, rationale Entschei<strong>der</strong>, intrinsisch<br />
leistungsmotivierte Personen. – Betrachten wir einige dieser Modelle näher. Es gibt<br />
in <strong>der</strong> Realität keine Massenpunkte, d.h. physische Körper, <strong>der</strong>en Masse in einem<br />
ausdehnungslosen Punkt vereint ist. Es gibt keine idealen Sprecher/Hörer (Noam<br />
Chomskys Sprachtheorie), d.h. Personen, die ihre Sprache vollkommen beherrschen,<br />
alle Regeln kennen und fehlerfrei anwenden. Es gibt keine rationalen Entschei<strong>der</strong>,<br />
d.h. Personen, die vollkommen über ihre Handlungsmöglichkeiten informiert sind<br />
und bei je<strong>der</strong> Handlungsentscheidung den erwarteten Nutzen maximieren. Und es<br />
gibt auch keine Personen, <strong>der</strong>en Handlungen vollkommen durch die intrinsische<br />
Leistungsmotivation bedingt sind.<br />
Ideale Modelle sind also keine Objekte, die man in <strong>der</strong> Wirklichkeit vorfinden<br />
könnte. Es sind Gegenstände des Denkens, die dadurch definiert sind, dass sie bestimmte<br />
ideale Eigenschaften haben (z.B. keine Ausdehnung, keine extrinsischen Motive<br />
usw.) Die idealen Modelle kommen im Unterschied zu den erwähnten Lehr- und<br />
Forschungsmodellen nur im Denken vor. Warum denken sich Wissenschaftler solche<br />
idealen Modelle aus, von denen sie wissen, dass sie nicht hun<strong>der</strong>tprozentig den<br />
realen Verhältnissen entsprechen können? Dies hat pragmatische Gründe, die sich<br />
am besten verstehen lassen, wenn man die Beispiele betrachtet. Atkinson hatte eine<br />
Idee, wie leistungsbezogenes Handeln sich aus dem Konflikt zwischen zwei<br />
Motivationen ergibt, und er konnte diese Idee in eine Reihe von Formeln fassen, mit<br />
<strong>der</strong>en Hilfe ziemlich vieles erklärt werden konnte. Hätte er versucht, noch die<br />
extrinsischen Motive in die Theorie einzubauen, wäre ihm wahrscheinlich keine<br />
funktionierende Theorie <strong>der</strong> Leistungsmotivation gelungen; alles wäre zu<br />
kompliziert geworden. – Chomsky machte sich Gedanken über die Tiefenstruktur<br />
aller natürlichen Sprachen, und es gelang ihm eine Theorie, die bis heute sehr<br />
einflussreich ist. In einer solchen Theorie über linguistische Strukturen passt nun <strong>der</strong><br />
Sachverhalt überhaupt nicht hinein, dass Personen in ihrem Sprechen auch durch<br />
Emotionen beeinflusst werden und dass sie häufig Fehler machen. Dies auch noch in<br />
die Theorie aufnehmen zu wollen, wäre ungeheuer schwierig, und wahrscheinlich<br />
fände man keine wenigen, gehaltvollen und zugleich einfachen Gesetze, die dies lei-