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Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...

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Semmelweis testete diese Hypothese, indem er anordnete, dass vor je<strong>der</strong> Untersuchung<br />

<strong>der</strong> Frauen die Hände in einer Chlorkalk-Lösung zu waschen waren.<br />

Daraufhin sank die Sterblichkeit am Kindbettfieber sofort ab und erreichte eine Höhe<br />

wie in <strong>der</strong> Zweiten Abteilung.<br />

Betrachten wir nun aus wissenschaftstheoretischer Perspektive, was Semmelweis<br />

getan hat. Zuletzt gelangte er zu einer Gesetzeshypothese (H 6), die man etwa so<br />

formulieren kann: Wenn Leichensubstanz in den Blutstrom einer Person gelangt,<br />

dann wird diese tödlich erkranken und im Krankheitsverlauf die Symptome des<br />

Kindbettfiebers zeigen. – Aufgrund späterer Beobachtungen entwickelte<br />

Semmelweis seine Hypothese noch weiter und nahm an, dass nicht nur Leichensubstanz,<br />

son<strong>der</strong>n auch „verfaulende Materie aus lebendigen Organismen“ die<br />

besagte Krankheit hervorrufen kann.<br />

Aus heutiger Sicht enthält H 6 natürlich nicht alles, was es über diese Zusammenhänge<br />

zu wissen gibt. H 6 kommt den Tatsachen aber ziemlich nahe.<br />

Die bedeutende wissenschaftliche Leistung von Semmelweis hatte ein trauriges<br />

Nachspiel, das in <strong>der</strong> Darstellung von Hempel nicht erwähnt wird. Man sollte<br />

eigentlich denken, dass Semmelweis, <strong>der</strong> nicht nur ein Erklärungsproblem, son<strong>der</strong>n<br />

zugleich ein praktisches Problem von höchster Dringlichkeit gelöst hatte, großen<br />

Dank und Anerkennung erfahren hätte. Aber es kam an<strong>der</strong>s. Semmelweis<br />

veröffentlichte seine Ergebnisse und seine präventive Methode und berichtete<br />

darüber auch in Vorträgen. Der Leiter <strong>der</strong> Ersten Geburtshilflichen Abteilung,<br />

Semmelweis’ Chef, fühlte sich übergangen, bezeichnete Semmelweis’ Ergebnisse als<br />

Denunziation <strong>der</strong> Verhältnisse in seiner Ersten Abteilung und startete eine groß<br />

angelegte Intrige. Im März 1849 verlor Semmelweis seine Stelle an <strong>der</strong> Klinik, er<br />

verließ Wien. 1865 wurde er mit einer Depression in die Irrenanstalt Steinhof bei<br />

Wien gebracht, wo er nach wenigen Tagen unter nicht ganz geklärten Umständen<br />

verstarb. 1906 wurde ihm in Budapest ein Denkmal gesetzt. Die Tatsache, dass die<br />

Wahrheit seiner Ergebnisse von <strong>der</strong> Medizin viel zu spät anerkannt wurde, kostete<br />

noch Tausenden von Frauen und Kin<strong>der</strong>n das Leben.<br />

Uns interessiert aber im Augenblick in erster Linie, worin das Vorgehen von<br />

Semmelweis genau bestand. Am Anfang stand ein Problem, genauer, es gab ein<br />

praktisches Problem: Was kann man gegen das Kindbettfieber tun? Und es gab ein<br />

Erklärungsproblem: Wie lässt sich das Kindbettfieber erklären? Beide hängen<br />

zusammen, denn wenn man eine Erklärungsfrage beantworten kann, gewinnt man<br />

oft (aber nicht immer) auch zugleich eine Antwort auf eine praktische Frage.<br />

Semmelweis’ Vorgehen bestand darin, dass er sich Hypothesen ausgedacht und sie<br />

getestet hat. Jede dieser Hypothesen war ein Erklärungsversuch.<br />

Fünf <strong>der</strong> Hypothesen wurden falsifiziert, die sechste konnte aber bestätigt werden. Sie<br />

lieferte die Lösung des Ausgangsproblems. Sie gab eine Erklärung für das

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