Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
- 64 -<br />
Semmelweis testete diese Hypothese, indem er anordnete, dass vor je<strong>der</strong> Untersuchung<br />
<strong>der</strong> Frauen die Hände in einer Chlorkalk-Lösung zu waschen waren.<br />
Daraufhin sank die Sterblichkeit am Kindbettfieber sofort ab und erreichte eine Höhe<br />
wie in <strong>der</strong> Zweiten Abteilung.<br />
Betrachten wir nun aus wissenschaftstheoretischer Perspektive, was Semmelweis<br />
getan hat. Zuletzt gelangte er zu einer Gesetzeshypothese (H 6), die man etwa so<br />
formulieren kann: Wenn Leichensubstanz in den Blutstrom einer Person gelangt,<br />
dann wird diese tödlich erkranken und im Krankheitsverlauf die Symptome des<br />
Kindbettfiebers zeigen. – Aufgrund späterer Beobachtungen entwickelte<br />
Semmelweis seine Hypothese noch weiter und nahm an, dass nicht nur Leichensubstanz,<br />
son<strong>der</strong>n auch „verfaulende Materie aus lebendigen Organismen“ die<br />
besagte Krankheit hervorrufen kann.<br />
Aus heutiger Sicht enthält H 6 natürlich nicht alles, was es über diese Zusammenhänge<br />
zu wissen gibt. H 6 kommt den Tatsachen aber ziemlich nahe.<br />
Die bedeutende wissenschaftliche Leistung von Semmelweis hatte ein trauriges<br />
Nachspiel, das in <strong>der</strong> Darstellung von Hempel nicht erwähnt wird. Man sollte<br />
eigentlich denken, dass Semmelweis, <strong>der</strong> nicht nur ein Erklärungsproblem, son<strong>der</strong>n<br />
zugleich ein praktisches Problem von höchster Dringlichkeit gelöst hatte, großen<br />
Dank und Anerkennung erfahren hätte. Aber es kam an<strong>der</strong>s. Semmelweis<br />
veröffentlichte seine Ergebnisse und seine präventive Methode und berichtete<br />
darüber auch in Vorträgen. Der Leiter <strong>der</strong> Ersten Geburtshilflichen Abteilung,<br />
Semmelweis’ Chef, fühlte sich übergangen, bezeichnete Semmelweis’ Ergebnisse als<br />
Denunziation <strong>der</strong> Verhältnisse in seiner Ersten Abteilung und startete eine groß<br />
angelegte Intrige. Im März 1849 verlor Semmelweis seine Stelle an <strong>der</strong> Klinik, er<br />
verließ Wien. 1865 wurde er mit einer Depression in die Irrenanstalt Steinhof bei<br />
Wien gebracht, wo er nach wenigen Tagen unter nicht ganz geklärten Umständen<br />
verstarb. 1906 wurde ihm in Budapest ein Denkmal gesetzt. Die Tatsache, dass die<br />
Wahrheit seiner Ergebnisse von <strong>der</strong> Medizin viel zu spät anerkannt wurde, kostete<br />
noch Tausenden von Frauen und Kin<strong>der</strong>n das Leben.<br />
Uns interessiert aber im Augenblick in erster Linie, worin das Vorgehen von<br />
Semmelweis genau bestand. Am Anfang stand ein Problem, genauer, es gab ein<br />
praktisches Problem: Was kann man gegen das Kindbettfieber tun? Und es gab ein<br />
Erklärungsproblem: Wie lässt sich das Kindbettfieber erklären? Beide hängen<br />
zusammen, denn wenn man eine Erklärungsfrage beantworten kann, gewinnt man<br />
oft (aber nicht immer) auch zugleich eine Antwort auf eine praktische Frage.<br />
Semmelweis’ Vorgehen bestand darin, dass er sich Hypothesen ausgedacht und sie<br />
getestet hat. Jede dieser Hypothesen war ein Erklärungsversuch.<br />
Fünf <strong>der</strong> Hypothesen wurden falsifiziert, die sechste konnte aber bestätigt werden. Sie<br />
lieferte die Lösung des Ausgangsproblems. Sie gab eine Erklärung für das