Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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liegend, von den erfolgreichen anzunehmen, dass sie gewisse Züge <strong>der</strong> Realität<br />
zumindest annäherungsweise richtig wie<strong>der</strong>geben?<br />
9.3 Die Unvollständigkeit von Theorien<br />
Wenn eine Theorie zu dem Zweck konstruiert wurde, gewisse empirische Phänomene<br />
zu erklären, so ist man sich oft darüber im klaren, dass diese Phänomene<br />
auch noch durch an<strong>der</strong>e Faktoren als die von <strong>der</strong> Theorie genannten kausal<br />
beeinflusst werden. Dies wurde oben bereits am Beispiel <strong>der</strong> Leistungsmotivation<br />
gezeigt. (Und wir haben dieses Problem unter dem Stichwort „ceteris paribus”<br />
behandelt.) Wir erinnern uns: Nach <strong>der</strong> Theorie, wie sie formuliert wurde, müssten<br />
Personen, bei denen Mm größer als Me ist, leistungsbezogene Aktivitäten immer<br />
vermeiden, denn nach T3 ist die resultierende Tendenz bei solchen Personen immer<br />
negativ, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Dass auch solche Personen<br />
gelegentlich leistungsbezogene Tätigkeiten ausüben, führt Atkinson auf extrinsische<br />
Motive zurück, die von <strong>der</strong> Leistungsmotivation im hier verstandenen Sinne zu<br />
unterscheiden sind: Erwartung äußerer Belohnungen wie Geld, Furcht vor Strafe<br />
usw. A3 ist demnach genaugenommen so zu interpretieren: Tr = Te + Tm + Textr<br />
Es wird also ausdrücklich eingeräumt, dass <strong>der</strong> wichtigste von <strong>der</strong> Theorie zu<br />
erklärende Sachverhalt, nämlich Tr (<strong>der</strong> sich manifestiert als Aufgabenwahl, Anspruchsniveausetzung,<br />
Ausdauer, erbrachte Leistung), auch von Faktoren abhängt,<br />
die nicht zum Gegenstand <strong>der</strong> Theorie gehören und über die aus <strong>der</strong> Theorie deshalb<br />
auch nichts gefolgert werden kann. Extrinsische Motive können das Verhalten in <strong>der</strong><br />
Tat entscheidend bestimmen. Die Theorie sagt jedoch we<strong>der</strong>, welche extrinsischen<br />
Motive es im einzelnen gibt noch welche Stärke sie haben und wie sie wirken. Dies<br />
bedeutet, dass die Theorie die zur Erklärung relevanten Faktoren nur unvollständig<br />
angibt.<br />
Zur Illustration dieses Problems noch ein weiteres Beispiel: Viele Theorien <strong>der</strong><br />
Kognition (Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit) beziehen sich nur auf rein<br />
kognitive Vorgänge und sagen nichts über den Einfluss von Emotionen auf die<br />
Kognition. Im Allgemeinen geht man aber davon aus, dass Emotionen einen<br />
diesbezüglichen Einfluss haben. Daher sind die entsprechenden kognitiven Theorien<br />
in gewisser Weise unvollständig.<br />
Unvollständigkeit im hier verwendeten Sinne ist eine Beziehung zwischen einer<br />
Hypothese o<strong>der</strong> Theorie T und einem mit ihrer Hilfe zu erklärenden Sachverhalt E. T<br />
nennt zur Erklärung von E eine Reihe von Faktoren, aber tatsächlich hat man die<br />
Vermutung, dass E noch von weiteren Faktoren abhängt, darunter solche, die man<br />
nicht genau angeben kann. An<strong>der</strong>s ausgedrückt, man benötigt zur vollständigen<br />
Erklärung von E Annahmen, die in T nicht vorkommen und über die aus T nichts<br />
abgeleitet werden kann. Im Allgemeinen wird man möglichst vollständige Theorien