Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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Kultur kenne, kann ich nachfühlen, dass ich ebenfalls so empfinden und handeln<br />
würde.<br />
Schließlich gibt es noch Fälle, in denen Verstehen ganz ausgeschlossen ist. Es ist z.B.<br />
nicht möglich, den folgenden psychologischen Zusammenhang nachzuerleben:<br />
Wenn man in einem bestimmten Kontext (<strong>der</strong> auch emotionale Bedingungen<br />
umfasst) etwas zu erinnern versucht, dann ist die Gedächtnisleistung besser, wenn<br />
man die zu erinnernden Sachverhalte im gleichen Kontext gelernt hat, als wenn man<br />
sie in einem an<strong>der</strong>en Kontext gelernt hat. – Dies ist ein interessantes Gesetz. Man<br />
kann zur Kenntnis nehmen, dass Lernen und Erinnern so abläuft, aber man kann<br />
nicht „nachfühlen”, dass ein solcher Kausalzusammenhang besteht. Ebenso ist es bei<br />
allen neuropsychologischen Gesetzen. Angenommen, <strong>der</strong> Großvater kann eines<br />
Tages keine verständlichen Worte mehr hervorbringen. Eine ärztliche Untersuchung<br />
ergibt, dass er einen Gehirninfarkt (Schlaganfall) erlitten hat. In einem solchen Fall<br />
macht es keinen Sinn, nacherleben zu wollen, warum er nichts mehr sagt. Man kann<br />
es aber erklären: Das Broca-Zentrum in seinem Großhirn ist beschädigt, und dieses<br />
Zentrum wird für die Koordination des Sprechverhaltens benötigt.<br />
Aus diesen Überlegungen folgt: Manches menschliche Verhalten kann man zwar<br />
erklären, aber nicht verstehen. (Man kann es natürlich in einem an<strong>der</strong>en, weiteren<br />
Sinne „verstehen”, man kann es begreifen; gebraucht man „verstehen” so, dann ist<br />
das Erklären eine Art des Verstehens). Die Methode des Verstehens im Sinne des<br />
Nacherlebens kann schon deshalb nicht jedes Erklären ersetzen.<br />
Alles in allem stellt sich heraus, dass es keine unüberbrückbare Kluft zwischen<br />
Verstehen und Erklären geben muss. Eine genaue Analyse des Verstehens hat<br />
erbracht, dass auch hier nomologische Hypothesen benötigt werden. Das Verstehen<br />
hat, wo es anwendbar ist, bestimmte vorteilhafte Eigenschaften. Es ist eine Hilfe<br />
beim Auffinden <strong>der</strong> Beweggründe von Personen. Manches Verhalten ist allerdings<br />
dem Verstehen nicht zugänglich, son<strong>der</strong>n nur einem Erklären (ohne Nacherleben).<br />
11.3 Verstehen als <strong>der</strong> praktische Schluss<br />
Neben dem vorgestellten Denkansatz zum Thema Verstehen, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />
philosophischen Hermeneutik kommt, gibt es noch einen an<strong>der</strong>en aus neuerer Zeit,<br />
<strong>der</strong> vor allem von Georg Henrik von Wright vertreten wird. Er betont nicht das<br />
Einfühlen und Nacherleben, son<strong>der</strong>n verweist darauf, dass Verstehen die Form eines<br />
bestimmten Schlusses hat, <strong>der</strong> als praktischer Schluss bezeichnet wird. („Praktisch”<br />
deshalb, weil es ein Schluss ist, <strong>der</strong> speziell für Handlungen gedacht ist.)<br />
Angenommen, wir wollen verstehen, warum die Person p die Handlung h<br />
ausgeführt hat. Hierzu ist es nötig, p’s Beweggründe zu erfahren. Beweggründe o<strong>der</strong><br />
Handlungsgründe sind einerseits Absichten, an<strong>der</strong>erseits Annahmen o<strong>der</strong><br />
Überzeugungen. Zu den Gründen für eine Handlung h gehört, 1) dass p die Absicht