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Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...

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befürwortet. In <strong>der</strong> Psychologie beispielsweise hat sich weitgehend die Meinung<br />

durchgesetzt, dass nomologische Erklärungen angestrebt werden sollten. Verstehen<br />

wird dort als eine eher unklare und wenig fundierte Methode angesehen. In <strong>der</strong><br />

Pädagogik hat dagegen die Lehre vom Verstehen eine lange Tradition, während es<br />

zugleich ziemliche Vorbehalte gegenüber dem Erklären gibt. In den <strong>Sozialwissenschaften</strong><br />

im Allgemeinen entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten als Konkurrenz<br />

zu den sogenannten „quantitativen Methoden” eine Richtung, die „qualitative<br />

Methoden” (z.B. teilnehmende Beobachtung, offenes Interview) empfiehlt, und diese<br />

qualitative Sozialforschung propagiert die Methode des Verstehens, während sie<br />

dem Erklären kritisch gegenübersteht. (Dilthey selbst hat übrigens nicht gegen das<br />

Erklären polemisiert.)<br />

Es sind nun einige Dinge zu klären. Eine erste entscheidende Frage lautet: Kann man<br />

beim Verstehen tatsächlich auf Gesetzeshypothesen verzichten?<br />

Wenn wir im oben gegebenen Beispiel verstehen können, dass jemand, <strong>der</strong> eine<br />

Frustration erlitten hat, aggressiv reagiert, dann scheint es zunächst, dass hierbei<br />

keine allgemeine Hypothese im Spiel ist. Aber dieser Eindruck täuscht. Man muss<br />

sich zunächst klar machen, dass es nicht allein darauf ankommt, dass <strong>der</strong> Betrachter<br />

das subjektive Erlebnis hat, die betreffende Handlung verstanden zu haben. Wenn<br />

Verstehen ein wissenschaftliches Verfahren sein soll, dann kommt es vor allem<br />

darauf an, dass <strong>der</strong> Versuch des Verstehens die tatsächlichen Beweggründe zu Tage<br />

för<strong>der</strong>t. Mit an<strong>der</strong>en Worten, das Verstehen ist in diesem Beispiel nur erfolgreich,<br />

wenn die betreffende Person wirklich eine Frustration erlitten hat, und wenn es<br />

wirklich diese Frustration war, die ihr Handeln bedingte. Woher können wir aber<br />

wissen, ob Frustration Aggression hervorruft? Das subjektive Gefühl, dass es wohl so<br />

ist, reicht hierzu nicht aus. Es könnte ein reines Vorurteil sein, o<strong>der</strong> vielleicht eine<br />

Hypothese, die auf den Betrachter zutrifft, nicht aber auf die handelnde Person, die<br />

es zu verstehen gilt. Dilthey sprach zu Recht von einem „Analogieschluss”.<br />

Analogieschlüsse sind jedoch, wie Induktionsschlüsse, nicht logisch gültig. Wenn<br />

uns <strong>der</strong> Analogieschluss subjektiv plausibel erscheint, dann wahrscheinlich deshalb,<br />

weil wir schon vorher die Hypothese gebildet haben, dass Frustration die<br />

Wahrscheinlichkeit einer Aggression erhöht. Es läuft also auf die Frage hinaus, ob<br />

diese Hypothese plausibel ist.<br />

Daher bleibt nur die Möglichkeit, eine entsprechende Gesetzeshypothese<br />

aufzustellen und zu testen bzw. zu schauen, ob es für den Anwendungsfall schon<br />

eine bewährte Gesetzeshypothese gibt. Und nur wenn eine solche Hypothese als<br />

bewährt gelten kann, hat das Verstehen des aggressiven Verhalten als Folge einer<br />

Frustration eine wissenschaftliche Grundlage.<br />

Ähnlich ist es mit dem Beispiel des Schülers Ralf, <strong>der</strong> den Unterricht stört. Es ist<br />

schön, wenn die Lehrerin durch Hineinversetzen in seine Situation zu dem<br />

Verständnis gelangt, dass Ralf auf sich aufmerksam machen will. Aber nun stellt sich

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