Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften - Open ...
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Infinitesimalrechnung wurde unabhängig voneinan<strong>der</strong> von Leibniz und Newton<br />
entdeckt.)<br />
Prinzip 2 for<strong>der</strong>t dazu auf, sich aufmerksam zu fragen, ob man eventuell gewisse<br />
entbehrliche Voraussetzungen macht. Man sucht eine Lösung und hält es für<br />
selbstverständlich, dass diese bestimmten Bedingungen genügen muss – dabei hat<br />
vielleicht gar niemand diese Bedingungen gefor<strong>der</strong>t, und sobald man dies einsieht,<br />
springt die Lösung geradezu ins Auge. Es gibt zahlreiche psychologische Experimente,<br />
die diesen Zusammenhang belegen. Und auch einfache<br />
Denksportaufgaben demonstrieren dies. Ein Beispiel: Sechs Streichhölzer liegen aus<br />
dem Tisch? Wie kann man aus ihnen vier gleichseitige Dreiecke bilden? Die Lösung<br />
lautet: Man muss eine Pyramide bilden. – Personen, die die Lösung nicht finden und<br />
sie mitgeteilt bekommen, erwi<strong>der</strong>n oft: Aber ich dachte, die Hölzer müssen auf dem<br />
Tisch liegen. – Das ist <strong>der</strong> Punkt: Es wurde nicht verlangt, dass die Hölzer auf dem<br />
Tisch liegen müssen. Auch <strong>der</strong> Erfolg von Zauberkunststücken beruht zu einem<br />
großen Teil darauf, dass die Zuschauer nicht auf die Idee kommen, gewisse ihrer<br />
akzeptierten Annahmen in Frage zu stellen.<br />
Bezogen auf die Wissenschaft bedeutet dies: Manchmal findet man die Erklärung für<br />
ein rätselhaftes Phänomen deshalb nicht, weil man nicht dazu in <strong>der</strong> Lage ist,<br />
bestimmte, anerkannte Annahmen in Frage zu stellen. Kopernikus und vor ihm<br />
Aristarch führten eine Annahme ein, die dem wi<strong>der</strong>sprach, was je<strong>der</strong> aufgrund<br />
seiner deutlichen Wahrnehmung für unbezweifelbar wahr hielt: dass sich die Sonne<br />
um die Erde dreht. Newton dachte etwas, was nach dem geltenden Weltbild<br />
undenkbar erschien: dass die Himmelskörper eine Anziehungskraft aufeinan<strong>der</strong><br />
ausüben. Einstein stellte eine scheinbar selbstverständliche Annahme in Frage: dass<br />
die Zeit für alles in <strong>der</strong> Welt gleich verläuft. – Große Entdeckungen erfor<strong>der</strong>n meist,<br />
dass jemand sich von dem loslösen kann, was alle an<strong>der</strong>en für evident halten. Nun<br />
wird sicherlich nicht je<strong>der</strong> ein großer Entdecker werden, <strong>der</strong> beim Problemlösen<br />
gelegentlich an Prinzip 2 denkt. Aber auch im Kleinen kann dieses Prinzip nützlich<br />
sein und Problemlösungen för<strong>der</strong>n, selbst wenn diese dadurch nicht gleich genial<br />
werden.<br />
Prinzip 3 regt dazu an, Verbindungen zu an<strong>der</strong>en Aufgaben herzustellen, in <strong>der</strong><br />
Hoffnung, dass dadurch ein brauchbarer Lösungsweg sichtbar wird. Vielleicht ist<br />
man einem ähnlichen Problem schon einmal begegnet und kann Erfahrungen<br />
verwerten. Wie ist man damals vorgegangen? Gibt es vergleichbare Probleme auf<br />
an<strong>der</strong>en Gebieten, in an<strong>der</strong>en Disziplinen, und wie geht man sie dort an? In den<br />
Wissenschaften wurde dieses Verfahren schon immer angewendet. Man übertrug<br />
z.B. die Gesetze <strong>der</strong> Mechanik auf Gase, um <strong>der</strong>en Verhalten zu erklären; man nahm<br />
an, dass Gase aus kleinen Teilchen bestehen, die den Gesetzen <strong>der</strong> Mechanik<br />
unterliegen. Dieses Vorgehen war erfolgreich, es entstand die kinetische Gastheorie.<br />
– Man nahm die bereits vorhandene Idee <strong>der</strong> Welle und wandte sie auf die optischen