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Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen

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98<br />

Die Glut / würkt nach dem Ding / das ihr ist vorgestellt /<br />

nach deßen Art sich pflegt der Brunst gestalt zufügen.<br />

Gott stutzt die Flügel erst / eh Er uns läst auffliegen.<br />

Leib=eigen muß man seyn / so herrscht man wie gemeldt.<br />

O unersinnter Sinn! wer kan dich doch begreiffen?<br />

du bist ja der Vernunfft ein unerzieltes Ziel /<br />

die man in diesem Meer der Weißheit muß ersäuffen.<br />

Die Ursach=ursach ist / dein hoher Lebens Will /<br />

daß süß= <strong>und</strong> schöne Frücht’ im Allmachts Herbste reiffen.<br />

wer GOtt gelaßen ist / mit dem hat Er sein Spiel.<br />

Galina K. Schapolavola<br />

Dieses Sonett, als religiöses Gedicht geschrieben, ist antithetisch gebaut, was schon<br />

aus dem wirkungsvollen Titel des Gedichts „Auf die erniedrigende Erhebung <strong>und</strong><br />

erhebte Nidrigkeit.“ ersichtlich ist, er ist der Schlüssel zur Textkonstitution (Hellwig<br />

1984). Er ist durch Kreuzstellung der Wörter gekennzeichnet <strong>und</strong> dient der<br />

gedanklichen Zuspitzung. So entsteht ein Chiasmus, 3 der in erster Linie der Antithese<br />

dient 4 <strong>und</strong> dem eine wichtige architektonische Funktion zukommt (Riesel<br />

1954: 320). Der antithetische Bau des Gedichts korrespondiert mit dem Antagonismus<br />

von Erhebung <strong>und</strong> Nidrigkeit <strong>und</strong> kann sich aus dem Willen zur geschliffenen<br />

Knappheit ergeben (Langen 1957: 1343). Das Gedicht enthält eine Fülle von<br />

„Gegensätzen“: erheben – vor biegen, onmächtig seyn – neue Krafft kriegen, nichts – etwas,<br />

unersinnter Sinn, unerzieltes Ziel. Diese lyrische Aussage kommt durch einen<br />

gehaltlichen Widerspruch, der nicht aufzulösen ist, zustande. Dass Passivität <strong>und</strong><br />

Unterwerfung dazu dienen, dass „süß- <strong>und</strong> schöne Frücht’ im Allmachts Herbste<br />

reiffen“, zeigt das Sonett. Es mischen sich in diesem Sonett die bekannten Themen<br />

von Unangenehmem als Voraussetzung <strong>und</strong> Vorstufe für die „Früchte“ <strong>und</strong> von<br />

Passivität als proklamierter Haltung in Kontrast mit „Herrschen“ als dem wirklich<br />

Erstrebten: “Gott stutzt die Flügel erst / eh Er uns läst auffliegen. // Leib=eigen muß man<br />

seyn / so herrscht man wie gemeldt.“ Die Spannung zwischen Passiv- <strong>und</strong> Aktivkonstruktionen<br />

durchzieht die <strong>Sprache</strong> des gesamten Sonetts. Jede Passivkonstruktion<br />

wird in der anderen Alexandrinerhälfte ihrem Gegenteil zugeordnet, <strong>und</strong> eine kausale<br />

Verbindung gibt den Gr<strong>und</strong> für das Unterwerfen von Willen <strong>und</strong> Freiheit:<br />

“wen Er erheben will / der muß die Knie vor biegen. // der muß onmächtig seyn / der neue<br />

Krafft soll kriegen. // wer ganz nichts von sich selbst / von dem er etwas / hält...“ Die Unterwerfung,<br />

das Sich-Gott-Lassen ist weniger freiwillig als vielmehr rationalisierend<br />

zu verstehen: Es scheint der Haltung zu entspringen, dass unter den gegebenen<br />

3 „Der Chiasmus kann formal erläutert werden als Aufeinanderfolge zweier Ausdrücke mit gleichen<br />

oder ähnlichen lexikalischen Einheiten, deren Reihenfolge im zweiten Ausdruck vertauscht wird.<br />

Dadurch können gegensätzliche Betrachtungsweisen eines Sachverhalts zueinander in Beziehung<br />

gesetzt werden.“ (Vgl. Fleischer et al. 1996: 270).<br />

4 „Die chiastische Form dient in erster Linie der Antithese. Der umgekehrten Gliederfolge entspricht<br />

ein gegensätzlicher Sinn. Wenige Sprachfiguren bieten so günstige Möglichkeiten, Inhalt <strong>und</strong> Form<br />

zur Deckung zu bringen, wie gerade der Chiasmus.“ (Vgl. Horacek 1964: 74).

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