Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Die Glut / würkt nach dem Ding / das ihr ist vorgestellt /<br />
nach deßen Art sich pflegt der Brunst gestalt zufügen.<br />
Gott stutzt die Flügel erst / eh Er uns läst auffliegen.<br />
Leib=eigen muß man seyn / so herrscht man wie gemeldt.<br />
O unersinnter Sinn! wer kan dich doch begreiffen?<br />
du bist ja der Vernunfft ein unerzieltes Ziel /<br />
die man in diesem Meer der Weißheit muß ersäuffen.<br />
Die Ursach=ursach ist / dein hoher Lebens Will /<br />
daß süß= <strong>und</strong> schöne Frücht’ im Allmachts Herbste reiffen.<br />
wer GOtt gelaßen ist / mit dem hat Er sein Spiel.<br />
Galina K. Schapolavola<br />
Dieses Sonett, als religiöses Gedicht geschrieben, ist antithetisch gebaut, was schon<br />
aus dem wirkungsvollen Titel des Gedichts „Auf die erniedrigende Erhebung <strong>und</strong><br />
erhebte Nidrigkeit.“ ersichtlich ist, er ist der Schlüssel zur Textkonstitution (Hellwig<br />
1984). Er ist durch Kreuzstellung der Wörter gekennzeichnet <strong>und</strong> dient der<br />
gedanklichen Zuspitzung. So entsteht ein Chiasmus, 3 der in erster Linie der Antithese<br />
dient 4 <strong>und</strong> dem eine wichtige architektonische Funktion zukommt (Riesel<br />
1954: 320). Der antithetische Bau des Gedichts korrespondiert mit dem Antagonismus<br />
von Erhebung <strong>und</strong> Nidrigkeit <strong>und</strong> kann sich aus dem Willen zur geschliffenen<br />
Knappheit ergeben (Langen 1957: 1343). Das Gedicht enthält eine Fülle von<br />
„Gegensätzen“: erheben – vor biegen, onmächtig seyn – neue Krafft kriegen, nichts – etwas,<br />
unersinnter Sinn, unerzieltes Ziel. Diese lyrische Aussage kommt durch einen<br />
gehaltlichen Widerspruch, der nicht aufzulösen ist, zustande. Dass Passivität <strong>und</strong><br />
Unterwerfung dazu dienen, dass „süß- <strong>und</strong> schöne Frücht’ im Allmachts Herbste<br />
reiffen“, zeigt das Sonett. Es mischen sich in diesem Sonett die bekannten Themen<br />
von Unangenehmem als Voraussetzung <strong>und</strong> Vorstufe für die „Früchte“ <strong>und</strong> von<br />
Passivität als proklamierter Haltung in Kontrast mit „Herrschen“ als dem wirklich<br />
Erstrebten: “Gott stutzt die Flügel erst / eh Er uns läst auffliegen. // Leib=eigen muß man<br />
seyn / so herrscht man wie gemeldt.“ Die Spannung zwischen Passiv- <strong>und</strong> Aktivkonstruktionen<br />
durchzieht die <strong>Sprache</strong> des gesamten Sonetts. Jede Passivkonstruktion<br />
wird in der anderen Alexandrinerhälfte ihrem Gegenteil zugeordnet, <strong>und</strong> eine kausale<br />
Verbindung gibt den Gr<strong>und</strong> für das Unterwerfen von Willen <strong>und</strong> Freiheit:<br />
“wen Er erheben will / der muß die Knie vor biegen. // der muß onmächtig seyn / der neue<br />
Krafft soll kriegen. // wer ganz nichts von sich selbst / von dem er etwas / hält...“ Die Unterwerfung,<br />
das Sich-Gott-Lassen ist weniger freiwillig als vielmehr rationalisierend<br />
zu verstehen: Es scheint der Haltung zu entspringen, dass unter den gegebenen<br />
3 „Der Chiasmus kann formal erläutert werden als Aufeinanderfolge zweier Ausdrücke mit gleichen<br />
oder ähnlichen lexikalischen Einheiten, deren Reihenfolge im zweiten Ausdruck vertauscht wird.<br />
Dadurch können gegensätzliche Betrachtungsweisen eines Sachverhalts zueinander in Beziehung<br />
gesetzt werden.“ (Vgl. Fleischer et al. 1996: 270).<br />
4 „Die chiastische Form dient in erster Linie der Antithese. Der umgekehrten Gliederfolge entspricht<br />
ein gegensätzlicher Sinn. Wenige Sprachfiguren bieten so günstige Möglichkeiten, Inhalt <strong>und</strong> Form<br />
zur Deckung zu bringen, wie gerade der Chiasmus.“ (Vgl. Horacek 1964: 74).