Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Sylwia Lemańska<br />
sem Tisch wird nicht nur zu Mittag gegessen, es wird auch zwischen den Eltern<br />
des Erzählers heftig gestritten, eben über den besagten Tisch. Es sei ein <strong>deutscher</strong><br />
Tisch, so die verzweifelte Argumentation der Mutter, <strong>und</strong> ihr ginge es immer wieder<br />
schlecht, wenn sie darüber nachdenke, dass an dem Tisch irgendein Gestapomann<br />
nach seiner Arbeit gesessen <strong>und</strong> Aale gegessen habe… Der Vater versucht, den<br />
verallgemeinernden Vorstellungen seiner Ehefrau Einhalt zu gebieten, indem er<br />
über den vorigen Tischeigentümer erzählt, der zwar auch ein Deutscher war, aber ein<br />
Sozialdemokrat, der für seine politischen Anschauungen sogar drei Jahre im KZ<br />
Stutthof verbracht habe. Die Mutter kann sich auch damit nicht zufrieden geben,<br />
denn wenn er nicht „der böse Deutsche“ gewesen sei, dann war es vielleicht sein<br />
Bruder – einen finde man ja am Ende immer. Damit wächst der Tisch zum Symbol<br />
der Befremdung, der deutsch-polnischen Spannungen – ein Gespenst, das<br />
lange Zeit nach dem Krieg immer noch spuken soll. Und selbst wenn der Tisch<br />
eines Tages der Wut <strong>und</strong> Verzweiflung seiner Besitzer zum Opfer fällt <strong>und</strong> zerstört<br />
wird, ist damit nur das Äußerliche des Problems beseitigt: Verdrängung anstatt<br />
Auseinandersetzung.<br />
Dem Tisch widerfährt im Prinzip dasselbe Schicksal, wie es der interkulturell<br />
geprägten Stadt Danzig zuteil wurde. Huelle erzählt auch in dieser Novelle über<br />
das Zusammenprallen des alltäglichen Lebens mit den Wirren der großen Geschichte<br />
<strong>und</strong> über seine zerstörerische Macht. Die Perspektive eines Kindes verschafft<br />
dem Erzähler eine gewisse Distanz <strong>und</strong> Beobachtungsfreiheit. Es ist die<br />
Neugierde, die ihn bewegt, anstatt der eigenen guten oder schlechten Erfahrungen,<br />
die einen für diese oder jene Seite Partei ergreifen lassen. Huelle als Erzähler zieht<br />
sich zurück, lässt seine Helden sprechen, beschreibt statt zu urteilen, schafft Platz<br />
für gesellschaftlich relevante Diskussionen. Das kindliche Rezeptionsvermögen<br />
entblößt auch einige gr<strong>und</strong>legende psychische Mechanismen der Figuren. Wenn<br />
zum Beispiel die Mutter über die kollektive Schuld der Deutschen spricht <strong>und</strong><br />
äußert, dass womöglich nur das Ausbleiben von Gewissensbissen diese vom Begehen<br />
eines kollektiven Selbstmordes abhielte, kommentiert das erzählerische Ich in<br />
kindlicher Gestalt: „Mama hatte panische Angst vor den Deutschen <strong>und</strong> nichts<br />
vermag sie von dieser Angst zu heilen.“ (Huelle 2007: 7) Paweł Huelle scheut keine<br />
schwierigen Themen, schreibt über Konfrontation mit Vorurteilen <strong>und</strong> Ängsten so<br />
wie sie die Menschen begleiten. Den geschichtspolitisch geprägten Maßstäben der<br />
polnisch-deutschen Beziehungen setzt Huelle, wie auch andere Danziger Autoren,<br />
das Paradigma einer ethnischen Identität entgegen. Diese Art von Identität wird<br />
vom geographisch-kulturellen Raum konstruiert <strong>und</strong> aufrechterhalten, in diesem<br />
Falle beispielhaft von dem interkulturellen Gdańsk, <strong>und</strong> kann zur Überwindung<br />
der Teilung in nationale Identitäten beitragen, damit auch zur Überwindung der<br />
spätestens 1945 begonnenen Spaltung einer Danziger Identität sowohl für die polnischen<br />
als auch für die deutschen Einwohner der Stadt. So sucht der Schriftsteller<br />
Huelle in seinen Büchern das deutsche mit dem polnischen Element stets in Einklang<br />
zu bringen, um so der Atmosphäre des alten Danzigs gerecht zu werden.