26.10.2012 Aufrufe

Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen

Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen

Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

104<br />

Rainer Maria Rilke<br />

VII<br />

Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter,<br />

ging er hervor wie das Erz aus des Steins<br />

Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter<br />

eines den Menschen unendlichen Weins.<br />

Nie versagt ihm die Stimme am Staube,<br />

wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift.<br />

Alles wird Weinberg, alles wird Traube,<br />

in seinem fühlenden Süden gereift.<br />

Nicht in den Grüften der Könige Moder<br />

straft ihm die Rühmung lügen, oder<br />

daß von den Göttern ein Schatten fällt.<br />

Er ist einer der bleibenden Boten,<br />

der noch weit in die Türen der Toten<br />

Schalen mit rühmlichen Früchten hält.<br />

Galina K. Schapolavola<br />

Das angeführte Sonett ist dem ersten Teil des Orpheus-Zyklus entnommen. Der<br />

Sänger, das sagt das Sonett aus, ist zum Rühmen bestellt. Die Rühmung ist die Orpheus<br />

gemäße Dichtungsart. Wenn er, der Genius, plötzlich aus der namenlosen<br />

<strong>und</strong> stummen Menge hervortritt, so ist es, als ob aus einem Felsen ein Stück glänzendes<br />

Erz aufblinkte. Er, den der Gott begeistert, wird auch angesichts von Tod<br />

<strong>und</strong> Vernichtung nicht schweigen, nicht angesichts des dunklen Schicksals, das die<br />

Götter verhängen, er verstummt nicht vor Gräbern. Er folgt ihrem Lebenspfade<br />

bis zum letzten dunklen Tor, <strong>und</strong> indem er das Andenken der Toten preist, ihnen<br />

zur Ehre <strong>und</strong> den Lebenden zur Bereicherung, entzieht er die Früchte ihres Wirkens<br />

im Lichte der Vergessenheit. Er hält Schalen in die Türen der Toten. Sie tragen<br />

zugleich die Früchte seiner ehrfürchtigen Beschäftigung mit ihnen. Hier<br />

scheint sich uns Orpheus, meint K. Kippenberg (1956: 126), mit dem irdischen<br />

Dichter so magisch zu vermischen wie die Sphären des Toten <strong>und</strong> Lebendigen<br />

überhaupt in diesem Gedicht. Nach E. Leisi läßt sich im Sonett der Bezug des<br />

Pronomens er (sein, ihn) nicht eindeutig festlegen: In „sein Herz, (…) Kelter eines dem<br />

Menschen unendlichen Weins“ muss damit wohl Orpheus gemeint sein, in: „wenn ihn das<br />

göttliche Beispiel ergreift“ eher der Dichter; man darf annehmen, dass diese Gleichsetzung<br />

gewollt ist (Leisi 1987: 86-87). Durch das vergängliche Herz des Dichters <strong>und</strong><br />

Sängers geht das Rühmen der Erde wie durch eine Kelter hindurch. Der Lebensstoff,<br />

den es zu Güte <strong>und</strong> Geist wandelte <strong>und</strong> läuterte, gleicht der immer nachwachsenden<br />

Rebe, das Wort, das da bereitet wurde, dem edlen, begeisternden<br />

Wein (Kippenberg 1956: 127). Das Gedicht hält sich nicht an das strenge Schema<br />

(Kellenter 1982). In den Reimen des Quartetts nimmt Rilke sich kleine Freiheiten.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!