Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Li Shuangzhi<br />
für seinen Gedichtzyklus nur sehr unbestimmte Anregungen ganz allgemeiner Art<br />
aus dem Buch Chinese Courtship empfangen <strong>und</strong> verwertet <strong>und</strong> in seinem Zyklus<br />
dann durchaus selbständig, aus eigener Phantasie <strong>und</strong> eigener Schöpferkraft heraus<br />
weiter gesponnen <strong>und</strong> dichterisch gestaltet“ (Chen Chuan 1933: 80). 5 Dies hat der<br />
Germanist <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong>wissenschaftler Chen Chuan in seiner Dissertation vor<br />
nahezu achtzig Jahren erkannt <strong>und</strong> man darf diese Einsicht auch auf Brecht <strong>und</strong><br />
seine Rezeption von Mei Lanfangs Theaterkunst übertragen. Bei letzterem sind die<br />
vermeintlichen „Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst“ 6 eher<br />
eine zugeschriebene als eine substanzielle Eigenschaft der fremden Kultur. Mit<br />
Blick auf die dramatische Tradition <strong>und</strong> Theoriegeschichte hat Renata Berg-Pan<br />
daher folgende Einschätzung gewagt: „It is quite possible, therefore, that Brecht<br />
mis<strong>und</strong>erstood much of Mei Lan-fang’s artistry“ (Berg-Pan 1979: 174).<br />
So zweifelsfrei wie die literarische Leistung der zwei klassischen bzw. klassischmodernen<br />
deutschen Dichter Ergebnis ihres misreading der Fremdkultur ist, so<br />
zwingend stellt sich hier die Frage nach der Notwendigkeit <strong>und</strong> Möglichkeit einer<br />
interkulturellen literarischen Kommunikation. Gerade in der <strong>Literatur</strong>, wo eine<br />
kulturelle Kodierung immer schon zwischen den Zeilen existiert, führt der bloße<br />
Fremdkontakt nicht unbedingt zu einem besseren Verständnis des Fremden. Häufiger<br />
gehen daraus Innovation <strong>und</strong> Produktivität im Eigenen hervor, wie die beiden<br />
Beispiele anschaulich belegen. Gewissermaßen misslungen ist dabei ein gegenseitiger<br />
Austausch ästhetischer Denkfiguren <strong>und</strong> Techniken. Hier gerät man wieder in<br />
die oben genannte schwierige Situation des Fremdverstehens, wo Aneignung des<br />
Fremden nicht Verstehen des Fremden im strengen Sinne meint, sondern wo es<br />
darum geht, etwas Alternatives, etwas Neues ästhetisch zu konstruieren, um sich<br />
von dem Alten, Konventionellen abzugrenzen. Interkulturelle Kommunikation<br />
rückt damit eher in die Ferne.<br />
Aber auch wenn die literarische Produktion von dieser Art misreading profitiert<br />
hat <strong>und</strong> weiterhin profitieren kann – wirkliche interkulturelle <strong>Literatur</strong>beziehungen<br />
können nur durch kulturelle Dekodierung, also kulturelle Kontextualisierung<br />
des literarischen Textes fruchtbar werden. Erst die Durchleuchtung der kulturellen<br />
Kodierung zeigt, was das Fremde fremd macht <strong>und</strong> wo die Grenze zwischen<br />
Eigenem <strong>und</strong> Fremdem tatsächlich liegt. Anders als eine Fixierung auf die äußere<br />
Fremdheit als etwas Unverstehbarem, bemüht man sich hier, die nachvollziehbare<br />
Logik der jeweils fremden Kultur aufzuzeigen, um so bewusst den Horizont beim<br />
Fremdverstehen zu erweitern. Schließlich ist das Verstehen nichts anders als „Horizontverschmelzung“<br />
mittels derer man sich dem Dilemma des Fremdverstehens<br />
entziehen kann, wenn das Fremde <strong>und</strong> das Eigene „immer wieder zu lebendiger<br />
Geltung zusammen[wachsen]“ (Gadamer 1972: 289-290). 7 So kann Fremdverste-<br />
5 Bemerkenswerterweise konstatiert Chen, dass Goethe selbst den geringen literarischen Wert der<br />
übersetzten chinesischen Romane, aus denen er seine Anregung bezog, erkannt habe.<br />
6 Titel eines Aufsatzes von Brecht (1967: 619-631).<br />
7 Bei seiner Definition des Verstehens als Horizontverschmelzung hat Gadamer leider das Fremdverstehen<br />
nicht berücksichtigt, sondern sich vor allem mit dem Verstehen innerhalb der eigenen Kultur