Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Literatur</strong>, Migration <strong>und</strong> sprachliche Kreativität 119<br />
sinagli ticini e jinostre<br />
carduni hiuci e ruvette<br />
purazzi junci e stroppe<br />
rose azalee e siepi<br />
glicini oleandri e giardini<br />
platani lecci e parchi<br />
Hopfen Raps <strong>und</strong> Felder<br />
Segge Hahnenfüße <strong>und</strong> Wiesen<br />
Birken Kiefern <strong>und</strong> Wälder. (Chiellino 1987: 60)<br />
Jede dieser drei Strophen hat ein eigenes Profil, <strong>und</strong> zwar zunächst nicht aufgr<strong>und</strong><br />
der Bedeutungen der Wörter, die auf den ersten Blick an den Index eines Handbuchs<br />
für Botanik erinnern, sondern aufgr<strong>und</strong> der Klänge der Wörter, der Signifikanten,<br />
genauer gesagt, der Onomatopöien. Diese veranlassen den Leser, eine<br />
imaginäre Reise zu machen, die ihn durch <strong>Sprache</strong>n – <strong>und</strong> damit durch Klänge<br />
bzw. Geräusche – führt. Die erste Strophe ist auf Kalabresisch, die zweite auf Italienisch<br />
<strong>und</strong> die dritte auf Deutsch verfasst. In der ersten Strophe häufen sich<br />
stimmlose Konsonantenkombinationen, Zischlaute, ein skandierter Rhythmus <strong>und</strong><br />
kurze, geschlossene Vokale. In der zweiten Strophe findet man eine Ansammlung<br />
stimmhafter Konsonanten, offene Vokale <strong>und</strong> Diphthonge. Die dritte Strophe<br />
vermischt die Laute aus der ersten mit denen aus der zweiten Strophe: stimmlose<br />
<strong>und</strong> stimmhafte Konsonanten, Zischlaute, offene <strong>und</strong> geschlossene Vokale werden<br />
kombiniert.<br />
Die Reise führt durch drei Vegetationstypen, welche sich gr<strong>und</strong>legend voneinander<br />
unterscheiden. Sie beginnt in der wilden kalabresischen Naturlandschaft der<br />
ersten Strophe, in der man das trockene Gelb knistern <strong>und</strong> zischen hört, führt über<br />
eine zivilisierte italienische Stadtvegetation in der zweiten Strophe, in der man<br />
aufgr<strong>und</strong> der Häufung stimmhafter Konsonanten <strong>und</strong> der Vokale a <strong>und</strong> o satte<br />
Farbtöne vernimmt, <strong>und</strong> endet in einer deutschen Natur- <strong>und</strong> Kulturlandschaft der<br />
dritten Strophe, in der man ein kräftiges Grün, durchsetzt von Gelb, rauschen<br />
hört.<br />
Bei einem Lyriker wie Gino Chiellino veranschaulicht ein solches dreisprachiges<br />
Gedicht ein sprachpolitisches <strong>und</strong> sprachphilosophisches Programm, welches<br />
in das Modell der Heterogenität ohne Hierarchie mündet. Chiellino präsentiert sich<br />
als ein mehrsprachiger Autor, der keine seiner <strong>Sprache</strong>n aufgeben will <strong>und</strong> jede<br />
davon für unübersetzbar hält. 10<br />
10 Zu den (mehrsprachigen) Schreibverfahren Gino Chiellinos vgl. ausführlicher Amodeo 1996: 173-<br />
193.