Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Franco Biondi<br />
Das Trio sprang wieder über den Zaun. Erst als die drei wieder auf der Straße standen,<br />
lachten sie <strong>und</strong> grölten <strong>und</strong> schrien, ich bin auch eine Kuh, muh, muh!<br />
Filippo fand im Straßengraben eine abgenutzte Kordel <strong>und</strong> band damit eine<br />
Schlinge. Begeistert sprang er über den Zaun <strong>und</strong> spielte Lasso mit den Kühen.<br />
Schnell erkannte er seinen Misserfolg.<br />
Carlino sagte: Der Cowboyknoten ist scheiße, komm mit der Kordel her, ich<br />
zeige euch den Matrosenknoten, der ist besser als der vom Cowboy – auch das lernst<br />
du nicht in der Schule, Dario.<br />
Dario rief: Spielen wir das Kordelspiel, wer die Drehung am besten tarnen kann?<br />
Klar doch, davon werde ich leben, wenn ich erwachsen bin.<br />
Ich auch, sagte Dario. Mit der Kordel brauchst du nicht auf- <strong>und</strong> abbauen,<br />
aufladen <strong>und</strong> abladen! Du lässt sie spielen <strong>und</strong> kriegst die Hosentasche voll<br />
Geld.<br />
Sie sahen einen Weg, der sich eine Wiese hinabschlängelte <strong>und</strong> verfolgten ihn.<br />
Eines will ich sagen, sagte Carlino. Je mehr Geld man hat, um so mehr muss<br />
man rechnen – irgendwann ist man nur am Rechnen, auf dem Rummelplatz, im<br />
Wohnwagen, überall. Meinst du, das ist schön? Denk mal nach, wenn ich dich frage,<br />
wie es dir geht, <strong>und</strong> du antwortest mir: Sieben<strong>und</strong>fünfzigmillionenlire. Oder ich sage<br />
dir, siehe mal, wie schön die Sonne heute ist, <strong>und</strong> du antwortest: drei<strong>und</strong>neunzig. Ich<br />
frage dann: was drei<strong>und</strong>neunzig? Und du: drei<strong>und</strong>neunzig, drei<strong>und</strong>neunzig, drei<strong>und</strong>neunzig!<br />
Nein, nein, ich will nicht mein Leben mit der Rechnerei verbringen!<br />
Der Weg führte zu einem flimmernden Ufer. Die Kiesel auf dem Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
das goldfarbene Moos glitzerten im Lichtspiel. Das Kiesbett des Flusses wirkte<br />
greifbar nahe. Die Jungen schmissen Steine in der Absicht, sie auf der Wasseroberfläche<br />
hüpfen zu lassen. Dann knieten sie sich auf das Gras, drückten eine kleine Fläche<br />
platt <strong>und</strong> legten mit dem Kordelspiel los.<br />
Carlino konnte die Fingerdrehung vollständig verschleiern. Filippo <strong>und</strong> Dario<br />
rieten auf gut Glück. Auch bei Dario konnte Carlino kaum erkennen, wann er den<br />
Finger gedreht hielt <strong>und</strong> wann nicht. Filippos Fingerdrehung war leicht zu enttarnen.<br />
Wir sind jetzt Experten!, begeisterte sich Dario. Bald können wir auf dem Kirmesplatz<br />
auftreten.<br />
Leider nicht, sagte Carlino. Als Kind brechen dir die Gagi das Rückgrat, wenn du<br />
sie verlieren lässt <strong>und</strong> du keinen Beschützer hinter dir hast!<br />
Beschützer?<br />
Ja, wenn du mit dem Spiel auf die Piazza gehst, brauchst du den Beschützer<br />
hinter dir. Das gehört zur Dritti-Mentalität. Man muss sich gegenseitig beschützen.<br />
Oder denkst du, dass die Sinti mit ihren Würfeln <strong>und</strong> Fingerhüten <strong>und</strong> ihren Karten<br />
<strong>und</strong> der Kordel keine Hintermänner haben?<br />
Schade!<br />
Was glaubst du, die Sinti können Gesichter lesen: Ein Blick, schon wissen sie alles<br />
vom Gagio. Sie wissen sofort, ob er Geld in der Tasche hat, ob er dämlich oder<br />
schlau ist! Weh nur, wenn sie sich verschätzen – dazu ist der Beschützer notwendig.<br />
Eines Tages beschützen wir uns gegenseitig.