Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Dekodierung vs. Misreading 143<br />
exotischen Alternative. Die Fremdheit wird paradoxerweise gerade bei der rationalisierenden<br />
Anstrengung hervorgehoben. Eine Folge davon ist die radikale Polarisierung<br />
des Eigenen <strong>und</strong> Fremden, wobei das Fremde zum Unverstehbaren <strong>und</strong><br />
Unerreichbaren gerät. Ein Blick in die Geschichte der Fremdbegegnung Europas<br />
macht klar, „dass die Wilden gerade so wild sind, wie die Westeuropäer sie haben<br />
wollen“ (Janz 2001: 8). Hinter dieser Ausgrenzung steht immer eine Identifikationsstrategie,<br />
die absichtlich das Fremde als das Unverstehbare <strong>und</strong> das Unerreichbare<br />
fixiert – mal mit utopischer Prägung, mal mit abstoßender Befremdlichkeit. 2<br />
Insgesamt ist festzustellen, dass das Fremdverstehen insofern immer eine unmögliche<br />
Aufgabe ist, als sich dieses Verstehen durch die objektive kulturelle Bedingtheit<br />
einerseits, die subjektive Projektion aus ganz verschiedenen Interessen<br />
andererseits immer schon zwischen „aktiv[er] Annäherung (Einverleibung) <strong>und</strong><br />
Ausgrenzung“ (Janz 2001: 11) oszilliert <strong>und</strong> daher immer eine imaginative Interpretation,<br />
ein misreading ist.<br />
Produktives misreading vs. interkulturelle <strong>Literatur</strong>beziehung<br />
Was bei der interkulturellen Hermeneutik problematisch erscheint, ist für die literarische<br />
Rezeption nicht unbedingt negativ. Im Gegenteil fehlt es in der deutschen<br />
<strong>Literatur</strong>geschichte nie an Beispielen eines „produktiven“ reading 3 der chinesischen<br />
Kultur <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong>, die gerade mittels Imagination von Fremdheit eine<br />
Alternative aus dem Fernosten gef<strong>und</strong>en/erf<strong>und</strong>en haben <strong>und</strong> daraus ihre ästhetische<br />
innovative Energie beziehen. Als zwei gelungene Beispiele sind Goethes Zyklus<br />
Chinesisch-Deutsche Jahres- <strong>und</strong> Tageszeiten <strong>und</strong> Bertolt Brechts V-Effekt in seiner<br />
epischen Theater-Theorie, zu dem ihn die Peking-Oper inspirierte, zu benennen.<br />
Wie in der Forschungsliteratur wiederholt darauf hingewiesen wurde, sind die<br />
beiden großen Dichter durch die Begegnung mit <strong>und</strong> Erfahrung völlig fremdartiger<br />
Dicht- <strong>und</strong> Schauspielkunst zu einem neuen Stil – bei Goethe den Alterstil in der<br />
Lyrik, bei Brecht die Verfremdung als Gr<strong>und</strong>lage des epischen Theaters – gelangt. 4<br />
Nicht zu übersehen ist aber, dass beide die chinesische <strong>Literatur</strong> bzw. Theaterkunst<br />
nicht aufgr<strong>und</strong> sinologischer Kenntnis rezipierten, sondern entsprechend eigener<br />
Intentionen interpretierten, um- <strong>und</strong> nachdichteten. „Goethe hat in Wirklichkeit<br />
2 In unserem Zusammenhang mit China als Gegenstand des Fremdverstehens siehe Hsia (1985: 369-<br />
389). In seinem Nachwort hat Hsia die China-Rezeption wichtiger <strong>deutscher</strong> Denker seit Gottfried<br />
Wilhelm Leibniz zusammengefasst. Dabei ist evident, wie China zu verschiedenen Perioden entweder<br />
als Utopie oder aber als rückständiger Gegenpol zur modernen europäischen Zivilisation interpretiert<br />
wurde.<br />
3 Den Begriff des „produktiven misreading“ entnehme ich zwar dem „creative misreading“ von<br />
Harold Bloom, aber anders als seine Analyse der Abgrenzungsstrategie der spätgeborenen Dichtergeneration<br />
gegen die Einflüsse der großen Vorfahren zielt meine Anwendung des Begriffs auf die<br />
Erläuterung der interkulturellen literarischen Rezeption <strong>und</strong> Nachdichtung. Siehe Bloom (1975: v.a.<br />
3-6).<br />
4 Von der zahlreichen Forschungsliteratur wären folgende zu benennen: Debon/Hsia (Hrsg.) (1985);<br />
Berg-Pan (1979).