Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Li Shuangzhi<br />
möglichkeiten als chinesische klassische Lyrik zu bieten. Andererseits besteht gerade<br />
hier die Gefahr, vorschnell die europäische Modernitätserfahrung geradewegs<br />
zur Deutung chinesischer Gegenwartslyrik heranzuziehen, ohne ihre fortwährende<br />
Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen <strong>und</strong> poetologischen Tradition zu<br />
berücksichtigen. Da ihre kulturelle Bedingtheit Dichtung immer mitkonstituiert,<br />
kann eine diese Bedingtheit übersehende Lesart nur ein misreading sein. Ein Versuch<br />
der Dekodierung der kulturellen Semiologie in der Lyrik dagegen kann vielleicht<br />
einen größeren Beitrag zur interkulturellen Kommunikation <strong>und</strong> eventuellen<br />
literarischen Interaktion leisten. In der Tat bewegt sich jede interkulturelle literarische<br />
Rezeption dennoch immer in der Spannung zwischen den beiden Lesarten.<br />
Dies hat seine Wurzel nicht zuletzt in der Doppelstruktur beim Fremdverstehen.<br />
(Miss-)Verstehen des Fremden: Problematik einer<br />
interkulturellen Hermeneutik<br />
In der Begegnung mit dem Fremden bzw. den Fremden konfrontiert man sich<br />
beim Versuch des Fremdverstehens schon immer mit einem Dilemma, denn „das<br />
Fremde [ist] gerade das, was wir nicht verstehen, <strong>und</strong> so muss der Versuch einer<br />
Hermeneutik des Fremden entweder scheitern oder dazu führen, dass das Fremde<br />
seine Fremdheit verliert“ (Schmidt 2009: 9). Wenn man die Daseinsform des Menschen<br />
als eine „kulturelle Existenz“ definieren darf – eine gr<strong>und</strong>legende Denkfigur<br />
der Kulturanthropologie (Schwemmer 1997) – scheint die erste Möglichkeit eher<br />
wahrscheinlich, denn schon die <strong>Sprache</strong> mit der wir eine Fremdheit deskriptiv zu<br />
umkreisen <strong>und</strong> hermeneutisch zu entziffern versuchen, ist kulturell bestimmt. Dazu<br />
kommen weitere Vorverständnisse, die gerade aufgr<strong>und</strong> des Selbstverständnisses<br />
der je eigenen Kultur das Verstehen immer begleiten <strong>und</strong> deswegen das Verstehen<br />
der kulturellen Andersartigkeit zusätzlich erschweren (Schmidt 2005: 9-14).<br />
In diesem Sinne ist Fremdverstehen immer schon ein Missverstehen, eine mit Tantalusqualen<br />
verb<strong>und</strong>ene vergebliche Annäherung. Das Fremde bleibt das Unverstehbare,<br />
Unerreichbare.<br />
Gleichzeitig ist das Bestreben, dem Fremden die Fremdheit zu nehmen, in Europa<br />
seit der Aufklärung fortwährend präsent <strong>und</strong> repräsentativ für eine rationalisierte<br />
Weltfassung. „Aufklärerischer Geist zielt [...] auf methodisch gewonnene<br />
Erfahrung, auf neues Wissen von bisher unbekannten oder nur dunkel geahnten<br />
Regionen der Welt, die nun durch sorgfältig geplante <strong>und</strong> vorbereitete Schiffsexpeditionen<br />
erk<strong>und</strong>et warden“ (Pickerodt 1987: 123). Aber das in der Aufklärung<br />
erwünschte Herangehen an die Fremdheit erweist sich nicht selten als eine Konstruktion<br />
des alter ego, wobei Aufklärer wie Diderot oder Voltaire „vordergründige<br />
Fremde, als Exoten, [...] das Eigene in anderer, fortgeschrittener Gestalt“ darstellen,<br />
um „mit ihren exotischen Gestalten [...] Diagnose <strong>und</strong> Kritik ihrer eigenen<br />
heimischen Welt“ vorzunehmen (Pickerodt 1987: 124). Mit dieser Intention führt<br />
die Wahrnehmung <strong>und</strong> Erfahrung der Fremdheit wieder zur Mythologisierung der