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Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen

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146<br />

2. Beispiel: Karma (von Yin Lichuan)<br />

Für das Popcorn<br />

muss der Mais wachsen<br />

Für den Sommer<br />

hebt der Melonenverkäufer<br />

das Messer<br />

Legt der Gelehrte das Messer fort<br />

gehört er zur Elite<br />

Legt der Bauer das Messer fort<br />

bleibt er Bauer<br />

Legen die Mafiosi die Messer fort<br />

sind sie Politiker<br />

Hebt der Buddha das Messer<br />

will er sich einen Namen machen<br />

[...] 8<br />

Li Shuangzhi<br />

Die zentralen Figuren in beiden Beispielen sind mit Bedeutung chinesischer kultureller<br />

Tradition aufgeladen. Schmetterlinge werden in der chinesischen Dichtung<br />

häufig als Bezugnahme auf den Schmetterlingstraum von Zhuangzi (auch als<br />

Dschuang Dsi geschrieben) dargestellt: Zhuangzi hatte geträumt er sei ein Schmetterling<br />

<strong>und</strong> fragt sich nach dem Aufwachen, ob er Zhuangzi sei, der von einem<br />

Schmetterling geträumt habe, oder ob er ein Schmetterling sei, der gerade träume,<br />

dass er Zhuangzi sei. Die Grenze zwischen Traum <strong>und</strong> Wirklichkeit verschwimmt<br />

<strong>und</strong> wird bezweifelt. Für den Leser im chinesischen Kulturraum ist das Bild des<br />

Schmetterlings fast selbstverständlich mit der Traumhaftigkeit des menschlichen<br />

Daseins, einer daoistisch geprägten Vorstellung, assoziiert. In Xi Chuans Prosagedicht<br />

ist dieser traditionelle Sinnzusammenhang jedoch nicht offenk<strong>und</strong>ig. Die<br />

Schmetterlinge werden durch die Hochgeschwindigkeit auf der Autobahn zerschmettert<br />

<strong>und</strong> enden als Dreck auf der Windschutzscheibe. Augenfällig ist hier<br />

eine Zivilisationskritik, die mitsamt ihrem poetisch-künstlerischen Ausdruck für<br />

Europäer <strong>und</strong> vor allem Deutsche seit Jahrh<strong>und</strong>erten vertraut ist. Aber Schmetterlinge<br />

als eine verborgene potentielle Identifikation mit dem Autofahrer, der den<br />

Verlust seines schönen müßigen Ichs in seiner zwangsläufig rasanten Bewegung<br />

wortwörtlich vor Augen sieht, kann man erst dann erkennen, wenn man den Text<br />

im Kontext von Zhuangzis Schmetterlingstraum liest.<br />

Gleichfalls charakteristisch für eine kulturelle Kodierung ist das Messer im<br />

Gedicht von Yin Lichuan. Hier zeigt sich auf der sprachlichen Ebene eine explizierte<br />

Parodie des buddhistischen Sprichwortes: „Legt der Mörder das Messer fort,<br />

wird er sofort zum Buddha.“ Schon der Titel „Karma“ ist eine Anspielung auf den<br />

8 Beide Texte stammen aus dem Hörbuch: Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe, übersetzt von Marc<br />

Hermann.

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