Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Nugescha Gagnidse<br />
der Kunst, der Philosophie <strong>und</strong> des Mythos, der <strong>Literatur</strong> <strong>und</strong> der Politik. So sind,<br />
nach Löwith, die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ „eine Diagnose der Zeit <strong>und</strong><br />
ein Versuch, aus dem Zerfall des Bestehenden einen Ausweg zu finden.“ (Löwith<br />
1978: 492) Sie sind „unzeitgemäß“, weil es eine „die Zeit überhaupt übersteigende<br />
Lehre von der Zeit <strong>und</strong> vom Sein“ (Nietzsche: Der Fall Wagner (1980: Bd. 6, 11))<br />
ist. Nietzsche versuchte sein ganzes Leben lang, „seine Zeit in sich zu überwinden,<br />
zeitlos zu werden“ (ebd.). Nicht zufällig ist solches Streben auch für den georgischen<br />
Dichter charakteristisch. Obwohl Nietzsche seine gegen seine Zeit gerichteten<br />
Betrachtungen „unzeitgemäß“ nannte <strong>und</strong> auf radikale Umwälzungen des Bestehenden<br />
drängte, empfand er in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ trotzdem<br />
sein „Unzeitgemäßes“ noch als zu „zeitgemäß“.<br />
Die scharfe Kritik Robakidses am Marxistischen Sozialismus, dem totalitären<br />
System in der Sowjetunion (was er für „zeitgemäß“ hielt) war für das sozialistische<br />
Georgien <strong>und</strong> besonders für die sowjetische Realität ganz „unzeitgemäß“. Die<br />
Analyse der Strukturen von Sozialismus <strong>und</strong> Kommunismus in seinem Werk wurde<br />
allmählich bekannt <strong>und</strong> gewann großen Einfluss. In Die gemordete Seele finden wir<br />
zum Beispiel Porträts der größten Politiker dieser Zeit, unter ihnen Stalin.<br />
Robakidses Einschätzung des sozialistischen Regimes scheint aus der heutigen<br />
Perspektive absolut „zeitgemäß“. Aber es ist die Frage, wie er Nationalsozialismus<br />
<strong>und</strong> Faschismus verstand <strong>und</strong> weshalb er sich begeistert der totalitären Bewegung<br />
in Deutschland anschloss, wenn er das gleichfalls totalitäre sozialistische Regime<br />
hasste. Warum passten seine Werke in die nationalsozialistische Ideologie? Warum<br />
interessierten sich die Verleger für sie <strong>und</strong> veröffentlichten sie mehrmals? Wenn<br />
man heute über diese Probleme diskutiert, muss man unbedingt die Heimatlosigkeit<br />
dieses Schriftstellers im Exil berücksichtigen, der auch in der Ferne im Mythos<br />
zu Hause war.<br />
In der weiteren Erforschung des Werks von Robakidse im Vergleich zu Nietzsche<br />
sehe ich eine lohnende <strong>und</strong> interessante Aufgabe, weil sich beide gegenseitig<br />
erhellen. Besonders zu untersuchen ist, wie Robakidse Nietzsches Idee der ewigen<br />
Wiederkehr verarbeitet, wie er seine Vorstellungen von antiker <strong>und</strong> moderner<br />
Kunst, Mythologie <strong>und</strong> Romantik, Dekadenz <strong>und</strong> Nihilismus, „Erlösungsproblem“<br />
<strong>und</strong> „Übermensch“ sich anverwandelt. Allerdings ist gerade das Schaffen von<br />
Robakidse nicht nur Ausdruck der Ideen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, es muss auch im<br />
Kontext der politischen <strong>und</strong> sozio-ökonomischen Lage in beiden Ländern, Georgien<br />
<strong>und</strong> Deutschland (bzw. Sowjetunion <strong>und</strong> Drittes Reich), betrachtet werden.<br />
Grigol Robakidse war schon als junger Mann begeistert von Nietzsches Werk.<br />
Die philosophisch-ästhetischen <strong>und</strong> literarischen Ansichten von Nietzsche standen<br />
in seinen Vorlesungen vor der Emigration aus Georgien immer im Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Schüchtern wagte ich mich an Nietzsche heran: etwas zog mich an, aber gleichzeitig<br />
hielt mich etwas zurück. Die Idee des Uebermenschen schien mir nicht besonders<br />
stark, soweit sie in „Zarathustra“ aufgerollt ist. Dafür aber war ich von dem dionysischen<br />
Phänomen („Geburt der Tragödie") gefesselt. Noch mehr aber von der Idee