Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Mit Blick auf die Ferne sich selbst zu widerfahren 153<br />
Olga Tokarczuk „Taghaus Nachthaus“<br />
Es wäre nicht plausibel, zu behaupten, dass die deutsch-polnischen Konfrontationen<br />
im Laufe des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zum Hauptthema des 1998 erschienenen Buches<br />
der polnischen Autorin wurden, obwohl diese zum großen Teil den narrativen<br />
Faden des Romans bestimmen. Die Frage, wovon „Taghaus Nachthaus“<br />
(Tokarczuk 2001) handelt, scheint überhaupt keine einfache zu sein. Tokarczuk<br />
beschreibt gewiss eine Landschaft mit Menschen, die diese ausfüllen oder es jemals<br />
gemacht haben, <strong>und</strong> doch ist es ein mehrdimensionaler Raum, den Tokarczuk mit<br />
Traumbildern, Legenden, Abschweifungen füllt <strong>und</strong> dessen Bild sie immer wieder<br />
frei entlang der Zeitachse der Erzählung verschiebt. Der Roman, dessen formale<br />
Struktur die fragmentarische Darstellung seiner Inhalte deutlich widerspiegelt,<br />
beginnt mit einer Art Einleitung, in der die erzählerische Wahrnehmungsweise<br />
angedeutet wird. Formulierungen, wie z. B.: „Die Welt ergibt sich mir, während ich<br />
sie betrachte, sie nähert <strong>und</strong> entfernt sich, so daß ich entweder alles auf einmal<br />
oder nur die kleinsten Einzelheiten sehen kann“, oder: „Selbst die Zeit ändert das,<br />
was ich sehe, nicht. Ich schaue, <strong>und</strong> weder erkenne ich etwas Neues noch vergesse<br />
ich etwas von dem, was ich gesehen habe.“ (Tokarczuk 2001: 7f.) Solche Beschreibungen<br />
erinnern an ein Kapitel in „Das europäische Alphabet“ des Österreichers<br />
Karl-Markus Gauß, das dem Phänomen der Heimat gewidmet wird. Gauß versucht,<br />
das Wesen der Heimat auf den Punkt zu bringen, indem er sie als etwas<br />
Kleines <strong>und</strong> doch zugleich etwas Kollektives sieht. Denn Heimat betreffe zwar<br />
einen kleinen Raum, aber dieser umfasse den Kontext eines gesamten Lebens.<br />
Heimat verbindet laut Gauß einen Ort, eine Landschaft mit den dort gesprochenen<br />
<strong>Sprache</strong>n <strong>und</strong> den dort lebenden Menschen, <strong>und</strong> obwohl sie unverändert zu sein<br />
scheint, unterliegt sie einem ständigen Wandel (vgl. Gauß 2008: 61-69). In Anlehnung<br />
an diese <strong>und</strong> viele weiteren Formulierungen Gauß’ ist man geneigt, die These<br />
aufzustellen, dass Olga Tokarczuks „Taghaus Nachthaus“ im Prinzip eine literarische<br />
Darstellung der Heimat ist, also eines Phänomens, das angeblich typisch<br />
deutsch sei. Nicht zufällig handelt es sich bei Tokarczuk um eine niederschlesische<br />
Gegend, die bis 1945 Heimat der Deutschen war, um dann auch eine polnische zu<br />
werden, denn die beiden Komponenten, deutsch <strong>und</strong> polnisch, werden sehr bewusst<br />
miteinander konfrontiert, jedoch nicht im Sinne eines Bruches, einer abrupten<br />
Wendung, sondern in einer Kontinuität, die so bezeichnend für den Heimatbegriff<br />
selbst ist. Die Natur stellt bei Tokarczuk eine Art Matrix für das zeitliche Geschehen<br />
dar. Es sind die Berge, die sich als das Beständige, als das von der Geschichte<br />
Unveränderte erwiesen haben, <strong>und</strong> der Raum, den die Menschen in der<br />
Zeit gestalten. So heißt es, die Deutschen, die viele Jahre nach dem Krieg ihre<br />
Heimat besuchen kommen, „all das zu sehen, was da gewesen war“ (Tokarczuk:<br />
104), „machten Fotos von Plätzen, an denen nichts war“ (Tokarczuk: 102) oder<br />
„zeigten […] mit dem Finger die Häuser, die es nicht mehr gab“ (ebd.). Durch den<br />
Vorgang einer hybridisierten Wahrnehmung eines realen, gegenwärtig gegebenen<br />
Raumes mit dem vorgestellten, vergangenen Inhalt wird die Mehrdimensionalität